Februar 28, 2011

Februar 23, 2011

Noch mal kurz zur Berlinale: IMPRESSIONEN.

Während ich mich dieses Jahr durch Forumsfilme gekämpft habe, hat meine herzallerliebste beste Freundin Melanie Renker die Berlinale-Zeit genutzt, um mal wieder close to the stars zu kommen. Dabei hat sie einige sehr schöne Photos gemacht, von denen sie nun auch ein paar gesammelt veröffentlichte. Da die Gute ja nicht nur meine wundertollen Blog-Banner erstellt, sondern sich mit mir auch schon durch die ein oder andere Berlinale-Party gesoffen hat, weise ich nur zugern auf ihre Bilder hin:

- Klick -

Februar 20, 2011

Berlinale 2011: TWENTY CIGARETTES

Nach Zügen, Seen oder Industriegebieten beobachtet James Benning, Meister der einen Einstellung, nun Menschen. 20 Raucher, 20 Zigaretten, 20 Schnitte, vor statischer Kamera, die stets auf nah gestellt ist. Quer durch alle Bevölkerungsschichten hat der Regisseur seine Protagonisten ausgewählt, Frauen und Männer jeden Alters und jeder Hautfarbe. Eine Einstellung dauert in der Regel eine Zigarettenlänge, mal zwanzig kommt der Film damit auf ca. 90 Minuten Laufzeit. "Twenty Cigarettes" ist Reduktion auf hohem Niveau, aber leider ohne besondere Konsequenz. In der unglaublichen Ruhe der gefilmten Situationen – kein Off-Kommentar, keine Musik, nur das stille Brennen der Zigarettenglut und diffuse Hintergrundgeräusche sind zu hören – kann man sich schön verlieren, einmal ganz für sich sein und illustre Zusammenhänge darüber spinnen, was einem die Bilder geben oder nicht geben, in welcher Beziehung sie zueinander stehen und was sie einem so über das Rauchen, Menschen, Individualität oder filmische Einheiten erzählen.

Konsequenz geht dem Film ab, weil Benning nicht auf Einmischungen verzichtet. "Twenty Cigarettes" ist sehr langweilig und sehr interessant, aber noch interessanter hätte er sein können, wenn sich die Personen (Probanden) freier vor der Kamera bewegen würden. Es gibt keine wirkliche Distanz und dadurch auch keinen wirklichen Beobachtungsraum. Einige Menschen rauchen angesichts der Kamera vor ihnen derart verunsichert und andere wiederum so kontrolliert, dass die Situationen zu Versuchen verkommen, in denen das Dokumentarische dem Inszenierten zu weichen droht. Das ist weder avantgardistisch noch experimentell, sondern nur halblauter Rock 'n' Roll. So spannend es sein kann, ein Ereignis minutenlang aus einer einzigen unbeweglichen Einstellung heraus zu ergründen: Der Blick sollte möglichst ungetrübt und unverfälscht, oder eben wiederum deutlich verfremdet und inszeniert sein. Sonst hält das Interesse gerade mal eine halbe Zigarettenschachtel lang.


50% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden

Berlinale 2011: EINE SERIE VON GEDANKEN

Ein Film, vier Segmente. In "El Greco in Toledo" verbindet Regisseur Heinz Emigholz intime Blicke auf ein Gemälde, das das Begräbnis des Grafen Orgaz zeigt, mit Eindrücken der Stadt Toledo, kanalisiert durch einen Off-Kommentar von Hanns Zischler. "Leonardos Tränen" montiert sich kreisförmig wiederholende Bilder eines brasilianischen Fußballspielers während der WM 1998, über die Emigholz Texte seiner eigenen Publikation "Der Begnadete Meier" legt. In der dritten Episode, "An Bord der USS Ticonderoga", fährt die Kamera über ein Photo von Wayne Miller, das Soldaten eines Flugzeugträgers während des Pazifikkrieges abbildet. Eine Stimme aus dem Off analysiert die Blicke der Männer, ihre Position zueinander – "Gaze" lautet das zentrale Wort aller Segmente. "Ein Museumsbau in Essen" schließlich zeigt eine Reihe kombinierter statischer Einstellungen des Museums Folkwang, von außen, von innen, und schließlich wieder von außen. Ein Museumsbesuch, der Zeit für eigene Eindrücke lässt.

"Eine Serie von Gedanken" ist die Vermengung der strukturformalistischen Emigholz-Leitthemen, wie er sie in Ansammlungen von Texten, Zeichnungen oder Hörspielen entwickelte, zu Film – "Photographie und jenseits" heißt der entsprechende serielle Zyklus. Das dichotomische Bilderdenken, Justieren filmischer Räume und Konstruieren von Zusammenhängen zwischen diametralem Bild- und Tonmaterial bildet die formale Experimentiergewohnheit des Films und seines Regisseurs. Widersprüche werden aufgelöst, Verknüpfungen hergestellt, Ästhetiken erweitert. Aus Reduktion wird Oxidation, das Filmerlebnis zur selbständigen Wahrnehmungsbildung zwischen Denotation und Konnotation. Der schulische Erbauungsduktus und die leidenschaftliche Antidetermination von Filmsprache machen die Arbeiten von Emigholz zu reichhaltigen Gedankensammlungen, in denen Film und Rezeption auf faszinierende Art theoretisiert und schließlich unlösbar vereint werden. Im Anschluss zur Vorführung von "Eine Serie von Gedanken" eröffnete Emigholz das Berlinale-Q&A mit den Worten: "Inspiriert wurde ich von einem Bob-Dylan-Song".

Mich zwang es umgehend in die Waschräume, um mich einer dicken langen, aus dem Rückgrat gepressten Nougatstange zu entledigen. Ich habe meine Kamera laufen lassen und das Material mit von mir selbst eingesprochenen Kunstgeschichts- essays vertont, um es für das Forum Expanded 2012 einzureichen. Berlinale 2012, ich komme.


10% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden

Februar 18, 2011

Berlinale 2011: TOAST

Filme, die gern lieb gehabt werden wollen. "Toast" erzählt die "wahre" Geschichte von Nigel Slater, der als Kind (Oscar Kennedy) im Großbritannien der 60er Jahre das Kochen für sich entdeckte und später (Freddie Highmore) zu einem der beliebtesten Köche des Landes avancierte. Der Film zeigt Nigel als jungen Außenseiter mit besonderer Mutterliebe und entsprechend problematischem Verhältnis zum Vater (Ken Stott), welcher nach dem Tod seiner Ehefrau noch einmal heiratet (Helena Bonham Carter) und seinem Sohn damit das Leben zur Hölle macht. Zuflucht findet Nigel deshalb besonders im Kuchenbacken, Fischbraten und Pasteten- formen, aber auch der Liebe zu Männern. Jetzt müsste man eigentlich noch schreiben, dass der schüchterne Junge sich irgendwann aus den konservativen bürgerlichen Fesseln befreit und nach London aufbricht, so wie es im Programmheft steht, aber das enthält einem der Film im Grunde vor. Er ist zu Ende, wenn die Geschichte überhaupt erst in Fahrt kommt. The teenage years of Nigel Slater – und weiter?
"Toast" ist eine britische Fernsehproduktion, die sogar schon in der BBC lief, es aber aufgrund ihrer Thematik und wohl auch mangels Alternativen irgendwie noch zur Berlinale-Sektion "Kulinarisches Kino" geschafft hat. Damit ist im Wesentlichen bereits alles gesagt. Die Geschichte ist zwar ganz schön und niedlich, wird aber von einer abwechselnd klebrigen und recht ideenlosen Inszenierung begleitet, die sich vor allem auf hübsch zubereitetes Essen konzentriert und gegen die auch die solide Besetzung kaum anspielen kann. Sämtliche Liebeswürdigkeiten der Geschichte werden leider mindestens drei Lagen zu dick aufgetragen, dazu Piano hier und Piano da, und ein Voice-Over darf auch nicht fehlen. Die tränendrüsige Baukastendramaturgie hätte "Toast" sicherlich nicht gebraucht. Und wer hat eigentlich irgendwann mal beschlossen, dass Kindheit und Jugend in gediegenen Qualitätsfilmen (oder Biopics) immer als pastellfarbene Feel-Good-Nostalgie verkauft werden müssen? In Erinnerung bleiben daher einzig die wunderbare Titelsequenz und das neu entdeckte Jungtalent Oscar Kennedy.

40% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden

Berlinale 2011: THE KING'S SPEECH

Nach breiten Zuschauervorlieben gefertigtes Oscarmaterial der besonders gediegenen Sorte, das in bauernschlauer James-Ivory-Tradition mit einnehmendem Pathos und ausgespieltem Sentiment einiges an Sympathie auf sich zu vereinigen sucht. In "The King’s Speech" geht es zunächst einmal um die Thronfolge von King George V. und den Amtsantritt seines jüngsten Sohnes nach dessen Tod, aber der Film erzählt statt vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, den politischen Umbrüchen im Königshaus oder anderer relevanter Dinge lieber eine Geschichte davon, wie es George VI. gelang, eine relativ stotterfreie Rede zu halten. Das folgt in erster Linie einer typischen Lehrer-Schüler-Dramaturgie, hier einmal zwischen sanftmütigem Logopäden und König in spe.

Der gedeihende Lernerfolg wird, wenn sich nicht gerade die bewährte Schuss-Gegenschuss-Didaktik der Filmhochschule dazwischen drängt, in verlotterten Montagen erzählt, denn so formschön kann schweißtreibende Zeit nur im Kino vergänglich gemacht werden. Irgendwann schließlich wird ersichtlich, was der Film anfänglich wenig diffizil ohnehin schon Einstellung für Einstellung kolportierte: Des Königs Stimmbänder wurden einzig durch die unbarmherzigen Korsettschnüre britischer Adelsmeriten verengt – ein Glück also, dass Colin Firth seinen stotternden King George gleich zu Beginn als stocksteifen Tunichtgut exponieren muss, dem jede noble Geste einen Krampf ins Gesicht drückt.

Die vordringliche Inszenierung, die offenbar alle augen- scheinlichen Klischees eines altbackenen Kostümfilms zu umschiffen gedenkt, soll dabei wohl die betagte Haltung des Films verhängen. Doch die besonders hinsichtlich der Figuren ausgeprägten Indifferenzen in der als Personendrama angelegten Adelsschmonzette spiegeln sich letztlich vor allem im Casting wider, dem wunderbar pretiösen Spiel eines Geoffrey Rush steht hier die völlige Fehlbesetzung von Guy Pearce oder Timothy Spall gegenüber. Bei all der konventionellen Manieriertheit muss man dem Film Tom Hoopers Versuche zugute halten, die steifen Vorgaben des Kostümformatkinos wenigstens mit teils lakonischem Humor aufzulockern – in manchen Momenten zwischen Firth und Rush entwickelt der Film zeitweilig eine angenehm amüsante Eigendynamik, die seinen sonst allzu kontrollierten Überbau zumindest momentweise vergessen macht.


40% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden

Februar 17, 2011

Berlinale 2011: DAS SCHLAFENDE MÄDCHEN

Anfang der 70er Jahre im Umkreis der Düsseldorfer Kunstakademie. Die Jünger der Beuys-Schule wachsen zu autonomen Künstlern heran, unter ihnen auch der Video- und Performance-Artist Hans. Im zeitgenössischen Kontext von Rainer Kirbergs "Das schlafende Mädchen" ist er eine erfundene Figur, die ihr Leben nahezu rund um die Uhr filmt. In der aufkeimenden Videokultur findet Hans die ultimative Ausdrucksform seines ausgeprägten Künstleregos – werde, der du bist – und eine Antwort auf jene Frage, die ihn zwischen Kunsttheorie und Selbstaufgabe selbst noch in Alpträumen heimsucht: Was denn nun wirklich Kunst sei. Der Film, den wir sehen, ist von Hans montiertes Videomaterial. Ein fiktiver Künstlerfilm also, eine Fake-Doku, fingierte Selbstinszenierung.

Hans (Jakob Diehl) lässt die Videokamera überall laufen. Er filmt vor allem sich und sein Porträt, im Park, in der Universität oder vor weißen Wänden, die er zum Beispiel zur Demonstration filmischer Kadrierung nutzt. Eines Tages stößt er auf Ruth (Natalie Krane), eine verloren wirkende junge Frau, die im Stadtpark lebt. Hans nimmt sie mit zu sich, erklärt sie zur Protagonistin seiner Videos und weicht nicht mehr von ihrer Seite. Als Ruth beginnt, sich selbst künstlerisch zu verwirklichen, die Szene aufzusuchen und mit Hans’ bestem Freund Philipp (Christoph Bach) anzubandeln, sperrt er sie und sich selbst in sein Atelier ein. Anders als die Aktbilder von Ruth, die sie in der Akademie hat erstellen lassen und in denen Hans keinerlei Verbindung zwischen Künstler und Modell erkennen kann, möchte er mit seiner Videokunst zeigen, wer die mysteriöse Frau wirklich sei. In einer allmählich wahnsinnigen Atmosphäre drohen sich die Grenzen zwischen Leben und Lebenskunst aufzulösen.

"Das schlafende Mädchen" ist Paraphrase, Parodie und Aufhebung von Kunst zugleich. Er untersucht zunächst weder affirmativ noch pejorativ das wechselseitige Verhältnis zwischen Kunst und Künstler durch die Augen der Kamera eines fiktiven Charakters. Kirberg lässt seine Figuren über Philosophie sinnieren, was ihnen den bewusst komischen Charakter intellektueller Verbalneurotiker verleiht, und sie ihre theoretische Kunst leidenschaftlich in die Praxis umsetzen. Dem Film ist tiefes Verständnis, aber auch ein vage suspektes Gefühl für Kunst eingeschrieben. Kirberg, der selbst an der Akademie Düsseldorf studierte, hat während seiner vielen Filme, Projekte oder Installationen unter anderem mit Amanda Lear und Kenneth Anger zusammengearbeitet. Seine Studienzeit bezeichnet er als durchsetzt von der "Rudolf-Steiner-Ideologie".

Die Stimme des Regisseurs erhebt sich in "Das schlafende Mädchen" nie unmittelbar, Kirberg lässt seinen Film Hans’ Film sein. Und doch motiviert er den Zuschauer zu einem vorsichtigen Werturteil, zu einem Bewusstsein darüber, was Kunst kann und was sie nicht kann. Und was sie vielleicht nicht sein dürfe. Das Projekt von Hans, die Wahrheit "seiner" Ruth mittels Videodokument zu ergründen, muss scheitern. Kunst kann nicht abbilden, wie das Leben wirklich ist, und sie kann es auch nicht ultimativ erforschen. Als Hans verunsichert und hilflos erkennen muss, dass Ruth nicht der Mensch ist, den er versuchsartig zu entdecken glaubte, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich aus dem Fokus seiner Kamera zu verabschieden. Ist das eine Absage an die Kunst – oder doch erst der Beginn ihrer emotionalen Erfassung? Ein ungemein faszinierender Film.


80% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden

Februar 15, 2011

Berlinale 2011: AUF DER SUCHE

Valerie (Corinna Harfouch) sucht ihren Sohn Simon. Zuletzt lebte und arbeitete er in Marseille, doch seit einer Woche scheint er spurlos verschwunden. Simons Mutter ist aus Deutschland in die sonnige Hafenstadt aufgebrochen, um gemeinsam mit Jens (Nico Rogner), dem Ex-Freund ihres Sohnes, herauszufinden, wo er sich aufhalten und ob ihm etwas passiert sein könnte. Doch das Verhältnis zwischen beiden ist angespannt, weil Valerie den jähzornigen Jens einst zurückwies und die sexuelle Identität ihres Sohnes offenbar nicht ernst genug nahm. Auf der Suche nach der Wahrheit wird sie allmählich mit der Frage konfrontiert, ob sie ihren Simon tatsächlich so gut zu kennen schien, wie sie bisher glaubte.

Nachdem Jan Krüger vor zwei Jahren seine esoterische Beziehungsgeschichte "Rückenwind" im Panorama vorstellte, hat er sich mit "Auf der Suche" dieses Jahr ins Forum der Berlinale begeben. Hier wie dort erweist sich das Reisemotiv als Schlüsselthema, fremde Orte scheinen in Krügers Filmen stets als emotionaler Katalysator zu fungieren. Dies nun ist ein deutlicher Schritt in Richtung heimeliger Indie-Mainstream, besetzt mit einer großen etablierten Schauspielerin des deutschen Films und ausreichend sorgfältig inszeniert, um diverse Programmkinos zu füllen. Gradlinig und zeitweise fast wie ein dramatischer Thriller konstruiert, setzt der Film auf ein organisch entwickeltes und wendungsreiches Drehbuch, das, wenn auch nicht unbedingt im klassischen Sinne, eine gewisse Form von Spannung generiert. Die Suche nach dem verlorenen Kind steht im Mittelpunkt, das zwischen- menschliche Drama kommt da wie von selbst.

Krüger hat sich als Regisseur deutlich weiter entwickelt, mit sicherer Hand und ohne Abschweife treibt er den Plot voran, was den Film von seinem Vorgänger stark unterscheidet. Sogar ein hohes Maß an komischen Dialogen und Situationen gönnt er sich. Trotzdem hinterlässt "Auf der Suche" einen etwas zwiespältigen Eindruck: Eingeführt als zentrale (Mutter)Figur, rückt Valerie aus unerfindlichen Gründen immer mehr in den Hintergrund. Ständig bleibt der Film bei Jens, folgt seiner Suche nach dem Ex-Freund, schneidet immer wieder zu ihm, wenn man sich nach dem überzeugenden Schauspiel von Harfouch sehnt. Krügers ausgeprägt schwule Ästhetik ist zudem wieder einmal mit besonders zerschlissenen Klischees durchsetzt – es gibt keinen dramaturgischen Grund, den Ex-Freund des verschwundenen Sohnes nackt unter die Dusche zu stellen, außer vielleicht, um wieder einmal der Pimmelquote des queeren Kinos einen Dienst zu erweisen.


50% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden & Reihe Sieben

Berlinale 2011: EN TERRAINS CONNUS

Drei Unfälle stehen im Mittelpunkt von "En Terrains Connus" ["Familiar Ground"]. Der erste ereignet sich auf der Arbeit von Maryse (Fanny Mallette), als ein Fabrikant seinen Arm verliert. Der zweite trifft ein Rebhuhn, das ans Fenster von Benoît (Francis La Haye) kracht. Den dritten verkündet ein Mann aus der Zukunft, seiner Vorhersage nach wird Maryse mit dem Auto verunglücken. Dies ist die grobe Einteilung des Films durch Zwischentitel. Maryse und Benoît sind Geschwister – sie lebt in einer unzufriedenen Ehe, er wohnt noch im Obergeschoss des Elternhauses und bekommt sein Leben nicht in den Griff. Zu den üblichen Unzufriedenheiten in ihrem Alltag gesellt sich zudem noch ein besonders kalter kanadischer Winter (Ort der Handlung: Québec) und eben jene fatalistische Unfallverkündung.

Zugegeben, das liest sich merkwürdig. Und es ist auch merkwürdig, jedoch nur im besten Sinne. Der franko-kanadische "En Terrains Connus" von Stéphane Lafleur vereint eine ganze Menge skurriler Einfälle, absurde Situationskomik und aberwitzige Figuren. Es gelingt ihm, daraus zu keiner Zeit eine ausgestellt freakige Provinzkomödie zu stricken, die unentwegt auf ihr ulkiges Potenzial verweisen müsste, sondern sich vielmehr als ganz stille und behutsame Tragödie zu positionieren. So abgenutzt es auch klingen mag, erzählt Lafleur nichts weniger als eine Geschichte, wie sie das ganz normale Leben schreibt. Damit reißt er gewiss keine Zäune ein oder präsentiert so etwas wie den originellsten Film der diesjährigen Berlinale, doch "En Terrains Connus" ist gerade dank seiner stilistischen Unauffälligkeit und seiner wunderschön leisen Pointen eine vergnügliche Reise ins verschneite Québec. Die sympathische Art, mit der dieser Film irgendwie vollkommen neben der Spur liegt, erinnert wohl nicht von ungefähr an "Fargo".


65% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden & Reihe Sieben

Februar 14, 2011

Berlinale 2011: VAMPIRE

Ein Blick ins Berlinaleprogramm. Was klingt interessant, was wird man eventuell nur hier und sonst vielleicht nie wieder auf der großen Leinwand sehen können, was muss man unter Pflichtbesuch verbuchen. "Vampire", der erste in den USA produzierte Film des japanischen Regisseurs Iwai Shunji ("All About Lily Chou-Chou"), erfüllt eigentlich alle Kriterien. Obwohl Inhaltsangaben, die mit "Simon Wade ist ein ganz normaler junger Mann" beginnen, zugegeben schon mal reichlich unsexy klingen, aber Inhalte werden ja gelegentlich auch arg überbewertet. Die schönsten Berlinalefilme sind in der Regel sowieso diejenigen mit Form oder auch Formverweigerung. Mit Leidenschaft, Freude am Filmischen, am Gestalten. So viel gebündeltes Fabulieren, so viel Exzess gibt es schließlich nur auf Filmfestivals. Schön!

Nun: Simon Wade (Kevin Zegers) ist also ein ganz normaler junger Mann. Bis auf den Umstand, dass er sich in Internetforen auf die Suche nach potentiellen Selbst- mörderinnen begibt, um ihnen den geplanten Freitod schmackhafter zu machen. Denn Simon ist ein Vampir, aber einer mit besonders großem Herz, deshalb möchte er nicht konkret töten, sondern ohnehin sterbewilligen Menschen das Blut abzapfen. Sonst aber ist er tatsächlich recht normal: Seine demenzkranke Mutter (Amanda Plummer) pflegt er recht skurril, aber dennoch liebevoll, und seinem Job als Biologielehrer (unglaubwürdig hoch zehn) geht er gewissenhaft nach. Nur die beharrliche Laura (Rachael Leigh Cook) nervt ihn ein wenig.

Obwohl "Vampire" einige starke Momente hat, mitunter eindrucksvolle, unkonventionelle Bilder findet, und die moderne Blutsaugermär ähnlich wie George Romeros "Martin" einfühlsam und melancholisch vertont, kommt der Film nie auf den Punkt. Seinen schwerfälligen Rhythmus mag man noch unter Stil vermerken, insgesamt aber macht Shunjis US-Debüt einen komplett planlosen Eindruck. Die immens unsichere Schauspielführung ist womöglich der Sprachbarriere geschuldet (im an die Vorführung anschließenden Q&A hatte der Regisseur Probleme, auch nur einen einzigen Satz auf Englisch zu formulieren) und sicher nicht unbedingt problematisch, doch die wirklich enorm prätentiöse Inszenierung – inklusive eines mehr als kuriosen Epilogs, in dem ein Mädchen mit Luftballon auf einer Tiefkühltruhe tanzt – strapaziert das Sitzfleisch nachhaltig.

Und dann drängelte er sich irgendwann vor, der meines Erachtens ja eigentlich viel zu inflationär und abschätzig genutzte Arty-Farty-Begriff. Er wurde erfunden für Filme wie "Vampire". So trostlos das Leben eines Vampirs (oder als Metapher verstanden: eines einsamen Jungen) auch sein mag, dieser Film ist noch tausendmal trostloser! Ich habe sogar einmal das Kino zum Rauchen verlassen vor lauter innerlicher Unruhe, etwas, das ich sonst nie tue! Und irgendwann begann ich schließlich, mir gewisse Unterhaltungswerte zu besorgen. Rechts neben mir saß ein guter Freund*, den der Film (Zitat) "intellektuell gekitzelt", also eher begeistert hat, was ich interessant fand. Links neben mir nahm eine Japanerin platz, die mir schon bei Filmbeginn negativ auffiel, weil sie laut schmatzend eine Asia-Nudelbox verköstigte, und sich im weiteren Verlauf der sehr langen 120 Minuten mit einem selbst gebauten Fächer abzukühlen versuchte, mehrmals hektisch das iPhone zückte und permanent undefinierbare Selbstgespräche führte. Das war nicht uninteressant, aber schöner wäre es gewesen, hätte der Film derlei Aufmerksamkeit von mir gefordert.


30% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden & Reihe Sieben

*aka. McKenzie

Februar 13, 2011

Berlinale 2011: ART HISTORY

Das Beziehungsstück "Art History" wird im Berlinale-Forum nicht ohne Grund im Double-Feature mit "Silver Bullets" gezeigt. Hier wie dort steht Regisseur Joe Swanberg auch als Darsteller im Mittelpunkt seiner eigenen Arbeit und verhandelt die persönliche Schaffenskrise, indem er das Filmemachen selbst problematisiert und an individuelle private Befindlichkeiten knüpft. Im Mittelpunkt steht eine Mini-Filmcrew, die an einem Wochenende in einem kleinen Häuschen verschiedene Sexszenen dreht. Als der Regisseur (Swanberg) zu bemerken glaubt, dass sich zwischen seinen beiden Protagonisten mehr als nur professionelle Erotik abspielt, beginnt er auszuticken und das Projekt zu sabotieren.

Das ganze erstreckt sich in laaangen statischen Einstellungen über 70 Minuten, mit konsequenter Schmucklosigkeit bei Photographie, Szenenbild und Beleuchtung, wie ein wortkarges menschliches Stillleben. Swanberg bezeichnet den Film insofern als Nachfolger von "Silver Bullets", als er dort (s)eine künstlerische Krise thematisiere, von der er sich mit "Art History" wiederum zu erholen versuche. Leider kämpft sich der dezent unangenehme Unterton des Vorgängers somit auch zum Paukenschlag hoch. Die sperrige Ich-Bezogenheit des Films lässt das Publikum vollkommen außen vor – reihenweise flüchtete es bei der Berlinale-Vorführung – und geriert sich außerdem in manierierten Sexchiffren: Den sprichwörtlichen Aufhänger des Films bildet doch tatsächlich die neue Standhaftigkeit des männlichen Protagonisten, die die Selbstzweifel des Regisseurs überhaupt erst heraufzubeschwören scheint. Da muss man sich dann schon mal fragen, ob Swanberg seine Filme eigentlich nur vom Schwanz her gedacht hat.


20% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden

Berlinale 2011: SILVER BULLETS

Regisseur Joe Swanberg gilt als einer der populärsten und vor allem fleißigsten Repräsentanten der US-amerikanischen Mumblecore-Bewegung, die sich mit unabhängigen Low- und teils auch No-Budget-Produktionen wie "LOL" oder "Beeswax" in den letzten Jahren zur interessantesten Erscheinungsform des jüngeren Independent-Films entfaltete. Mittlerweile häufen sich auch kommerziellere Varianten, zuletzt mit "Greenberg" oder "Cyrus", deren zwangloser Geist durch die Gesetze des US-Mainstreams jedoch tendenziell aufgehoben wurde. Inhaltlich fokussieren die Filme in der Regel um sich selbst kreisende persönliche (Liebes)Beziehungen zwischen Mittzwanzigern, die sich in endlosen Nuscheldialogen mit Alltagsproblemen herumschlagen, formal geben Laiendarsteller, Improvisationen und gemeinsam entwickelte Drehbücher den Mumblecore-Filmen ihre Gestaltungsform.

Im mit Minimalbudget und Digicam gedrehtem "Silver Bullets" ist das nicht anders. Swanberg inszeniert eine sich gegenseitig bedingende Liebes- und Schaffenskrise, durch die das Leben der Figuren aus den Fugen gerät. Ein junger Filmemacher (gespielt von Swanberg selbst) ist zutiefst verunsichert, weil seine Freundin (Kate Lyn Sheil) die Hauptrolle im Horrorfilm eines aufstrebenden Regisseurs (Ti West, "The House of the Devil"!) ergattern konnte und besetzt dafür im Gegenzug deren beste Freundin in seinem eigenen Film. Aus dieser mit nicht wenigen Beziehungsbanalitäten angereicherten Prämisse spinnt Swanberg eine psychotische Mann-Frau-Schau zwischen Selbstzweifel und Liebeskummer, die auch noch mit diversen selbstreflexiven Film-im-Film-Bezügen zurechtkommen muss.

Das ist in einigen Momenten unglaublich schön, in anderen wiederum unglaublich doof. Der anachronistische Musikeinsatz, das zunächst unklare Wechselverhältnis zwischen Film und Realität, Swanbergs schonungsloses autobiographisches Selbstverhandeln – das macht "Silver Bullets" prinzipiell zu einem durchaus interessanten Film. Doch das allmähliche Verharren in typischen Paarungsklischees, heterosexuellen Meriten und filmstudentischem Popanz – ein Regisseur spielt einen Regisseur, ein anderer Regisseur spielt einen anderen Regisseur, und im Zentrum der emotionalen Macht steht wieder einmal die schauspielernde Frau, das unbekannte Wesen – vernebelt die vielen starken Ansätze des Films. Am Ende fühlt man sich ein wenig unangenehm berührt, so viele mit sich selbst beschäftigte Egoprobleme eines 29jährigen Regisseurs ertragen zu müssen.


50% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden & Reihe Sieben

Februar 12, 2011

Berlinale 2011: UNTER KONTROLLE

Under Control: Odyssee im Kernkraftwerk, Bilder zwischen Erforschung und Bestandsaufnahme, Dokumentation in CinemaScope. "Unter Kontrolle" von Volker Sattel beginnt wie pure Science-Fiction: In schönsten Breitwandbildern führt er durch artifiziell erscheinende Kontrollräume und schwebt hinweg über diffuse technische Wunderwerke. Doch der schwelgerische Schein trügt, in seinem Dokumentarfilm hat Sattel lediglich verschiedenste Kernkraftwerke in Deutschland und Österreich besucht, denen er faszinierende Einblicke abgewinnt. Und die Kamera ist überall, beobachtet Konferenzen, Arbeitsprozesse, Mitarbeiter, am Liebsten noch würde sie wohl gespaltene Atome ablichten. Wie die essayistischen Dokumentationen von Harun Farocki verzichtet auch Sattel auf konventionelle Hilfestellungen, kein Off-Text, keine klare Linie und keine überdosierten Hintergrund- informationen behindern seinen nüchternen, ja geradezu rücksichtsvollen Blick.

Die Kamera gerinnt zur erzählerischen Kraft. Information ist, was sie einfängt. Wenn sie den Gesprächen der Mitarbeiter lauscht und sich aus diesen sogleich mit sanften Schwenks wieder verabschiedet, muss man ihrem Blick unweigerlich folgen. Mächtige Bilder, eine Situation des Ausgeliefertseins, Dokumentation unter Vorsicht. Der Schnitt stellt die entsprechende Ordnung her, gut vorstellbar, dass "Unter Kontrolle" dort neben seiner Rhythmik auch überhaupt erst zu Form und Struktur fand. Zuletzt besucht Sattel nicht mehr nur Anlagen, sondern auch Behörden der Atomindustrie, Zwischen- wie Endlager und schließlich auch stillgelegte Kernkraftwerke. Eine chronologische Bilderkette, aus der man das allmähliche Ende der Kernenergie ableiten mag. Der Film behält sich einen Kommentar zum aktuellen Diskurs allerdings vor, Beurteilungen sind Sattels Sache nicht. Seine Bilder von Schalttafeln, Kühltürmen und Lagerschächten bewegen sich zwischen Faszination und Befremden – Staunen ist gut, Kontrolle besser.


70% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden & Reihe Sieben

Berlinale 2011: THE STOOL PIGEON

Ein innerlich zerrissener Cop, gebeutelt von privaten und beruflichen Schicksalsschlägen, und ein junger Ex-Knacki, der sich für ihn als Titel gebender Spitzel in eine Gangsterbande einschleust, bilden die beiden zentralen Figuren in "The Stool Pigeon". Regisseur Dante Lam, neben Johnnie To das zurzeit wohl populärste Aushängeschild des Actionkinos aus Hongkong, inszeniert die Geschichte von Polizist und Schützling als dramatischen Thriller mit Noir-Anklängen, spektakulären Verfolgungsjagden und brutalen Zweikämpfen. Sein Hauptaugenmerk liegt gleichermaßen auf ausgefeilten Visuals, wie auch auf den mit großem Sentiment erarbeiteten Charakteren, was die altbekannte und alle nur erdenklichen Genreklischees abgrasende Geschichte glücklicherweise in den Hintergrund verdrängt.

"The Stool Pigeon" ist leider dennoch wenig aufregend. Der vor sich hergetragene melancholische Tonfall steht in keiner Beziehung zu den schablonenhaften Figuren, die vielen unausgegorenen Nebenschauplätze und narrativen Verdrahtungen des Drehbuchs stören den Genuss des Films als rein emotional-sinnliches Erlebnis. Der für den HK-Genrefilm nur allzu signifikante Hang zum plötzlichen melodramatischen Ausbruch bleibt darüber seltsam wirkungslos, die mitunter eindrucksvollen, aber nur angerissenen Actionmomente vermitteln einen unfertigen Eindruck. Erst im Finale läuft Lam zu poetischer Form auf, wenn er blutige Nahkämpfe zwischen Bergen von Stühlen als ungemein intensive kinetische Gewalt in Szene setzt. Unterm Strich leider eine herbe Enttäuschung.


40% - erschienen bei den: 5 Filmfreunden & Reihe Sieben

Februar 02, 2011

Kino: MY SOUL TO TAKE

Vor rund 16 Jahren wurde das Provinznest Riverton von einem Serienmörder heimgesucht, ehe der schizophrene, sich seiner Taten unbewusste Ehemann und Vater Abel Plankov eines Nachts gestellt und zur Strecke gebracht werden konnte. Seither glauben die Einwohner der verschlafenen Kleinstadt, dass der Geist des Riverton Rippers dort noch immer sein Unwesen treibt. Der Aberglaube um düstere Flüche und schicksalhafte Reinkarnationen beschäftigt auch die – huch – 16jährigen Teenager des Orts, weshalb diese in jährlichen Ritualen die Seele des Mörders zu vertreiben versuchen. Gleich sieben Kinder wurden in der damaligen Todesnacht geboren, unter ihnen der schüchterne Bug. Als der Ripper tatsächlich zurückzukehren und sein Werk zu vollenden scheint, muss sich der Junge dem schrecklichen Erbe stellen: Er könnte der Sohn des Serienmörders sein.

"My Soul To Take" ist Wes Cravens erster Film seit über 15 Jahren, den er nicht nur inszeniert, sondern auch selbst geschrieben hat. Es ist ein recht kurioser und teils auch überaus trashiger, vor allem aber ist es hochinteressanter Film, der in den USA  bei Publikum und Kritik gnadenlos durchfiel. Wes Craven stellt allerdings eines von Anfang an klar: Dies ist nicht nur ein sehr persönlicher Film, sondern auch eine Art durchgeknalltes Best-of seines Regisseurs. Gleich in der hysterisch überdrehten, geradezu karikaturesk geschnittenen Exposition feiert Craven die Quasi-Wiederauferstehung seiner mediensatirischen Horrorpersiflage "Shocker", ehe der fatalistische Plot um einen gesichtslosen Teenagerkiller aus der Vergangenheit – über den die Eltern wieder mehr zu wissen scheinen als ihre Kinder – noch einmal sein bizarres Meisterwerk "A Nightmare On Em Street" Revue passieren lässt.

Da dieses reinste Sammelsurium aus Selbstzitaten und Verweisen aufs eigene Schaffen jede Mühe scheut, eine halbwegs logische Geschichte zu erzählen oder sich zumindest vordergründig als Teen-Horror zu behaupten, zielt es geradewegs am breiten Publikum vorbei. Die Handlung von "My Soul To Take" erweist sich vielmehr als elliptische Assoziationskette, in der Craven mit einer traumähnlichen Stimmung Motivkonstanten seiner bisherigen Filme verknüpft. Das kann man aufgrund der vielen Auslassungen, des meist völlig zusammenhanglosen Drehbuchs und der konfusen Inszenierung, die gern auch mal ins Religiöse oder Esoterische driftet, als schlecht erzählt empfinden, so wie offenbar die normative (normierte) Filmkritik in den USA. Man kann hinter dem augenscheinlichen Gewirr des Films aber auch ein Konzept vermuten: Immerhin spielte Craven schon in "Shocker", "New Nightmare" und "Scream" mit Erzählebenen, Klischees und der Belastungsfähigkeit des Genres.

Die sinnliche Grobschlächtigkeit des Films ist viel zu reizvoll, um das zumindest narrative Durcheinander als bloßen Dilettantismus abtun zu können. Allein in den Dialogen, die eigenartig zu nennen noch untertrieben wäre ("It’s not okay for everybody to kill each other all the time."), lässt "My Soul To Take" einen gewissen Unernst erkennen. Auf mal infantile, dann wieder höchst faszinierende Weise variiert Craven zudem Bilder seiner vorherigen Filme, interpretiert sie neu oder führt sie ad absurdum. Die Genreklischees, die in "Scream" benannt, beackert und natürlich auch bedient wurden, multiplizieren sich hier so unverblümt selbst, dass man manchmal tatsächlich nicht weiß, ob man kichern oder mit dem Kopf schütteln soll. Das kuriose Antiklimax-Finale setzt dieser zwischen bekloppt und genial schwankenden Strategie (?) schließlich die Krone auf: Sorgfältig reiht Wes Craven im Abspann seine Storyboards auf, um allem vermeintlich planlosen Quatsch rückwirkend Struktur zu verleihen.

Und dann muss man eben doch noch einmal genau hinschauen, wie sich hinter all dem scheinbaren Nonsens Themen und Motive verbergen, die Cravens gesamte Karriere durchziehen. Aus einer adoleszenten Figurenperspektive visualisiert er auch hier Fragen nach elterlicher Autorität und jugendlicher Selbstverwirklichung, und wie zuletzt in der Teen-Werwolfsgroteske "Cursed" kodiert er dabei die hinreichenden Probleme des Erwachsenwerdens: Hilflos ist der junge Protagonist seinem mörderischen Erbe ausgeliefert und bekämpft den allmählichen Realitätsverlust so vehement wie andere Teenager höchstens ihre Pickel. Den genreüblichen Hokus-Pokus einmal abgezogen, erweist sich der Film im Kern – wie auch "A Nightmare On Elm Street" – als Coming-of-Age-Geschichte, die überdeutlich Cravens Handschrift trägt und wie so oft inmitten des Kleinstadtvorhofs zur Hölle angesiedelt ist.

Auf den ersten ungenauen Blick mag das als handelsüblicher, ungekonnter Slasher mit übernatürlichem Einschlag durchgehen, doch "My Soul To Take" ist eben vor allem ein Film über seinen Regisseur. Suburbia-Teen-Horror, der die Unter-, Ober- oder was auch immer für Töne aller bisherigen Craven-Arbeiten hemmungslos ausstellt, verdreht und zugegeben auch irgendwie banalisiert. Zwischen kalkuliert-naiv und unbedacht-frivol, zutiefst rätselhaft, aber auch von besonderem Reiz. Subtext wird zum Text und das bereits Umgeschriebene doch noch einmal anders gedeutet – "Scream" als "Scream"-"Scream", Meta als Überhöhung. "My Soul To Take" ist vielleicht das, was Craven sich selbst unter seinem Schaffenswerk vorstellt, die eigene intuitive Rezeption als Nochmal-Film oder auch ausgestellter Jux. Dass er damit die Aufhebung seiner stärksten Filme riskiert, ist ihm womöglich egal. Nach der Postmoderne folgt schließlich die Rückkehr zu den Affekten.



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Zuletzt gesehen: FILME IM JANUAR 2011


Absolutes Monatshighlight:
Die
Tim Burton Werkschau im Arsenal

Vincent
(USA 1982, Tim Burton) (9/10)

Beetlejuice
(USA 1987, Tim Burton) (7/10)

Batman
(USA 1989, Tim Burton) (7/10)

Edward Scissorhands
(USA 1990, Tim Burton) (10/10)

Ed Wood
(USA 1994, Tim Burton) (10/10)


Pour elle
(F 2008, Fred Cavayé) (4/10)

I Saw What You Did
(USA 1965, William Castle) (5/10)

House on Haunted Hill
(USA 1959, William Castle) (6/10)

Homicidal
(USA 1961, William Castle) (7/10)

Devil
(USA 2010, Drew Dowdle & John Erick Dowdle) (3/10)

Siegfried
(D 2005, Sven Unterwaldt Jr.) (-1/10)

Evil under the Sun
(GB 1982, Guy Hamilton) (5/10)

The Green Hornet
(USA 2011, Michel Gondry) (2/10)

Devil's Playground
(GB 2010, Mark McQueen) (1/10)

Esel mit Schnee
(D 2010, Romuald Karmakar) (7/10)

Sunset Boulevard
(USA 1950, Billy Wilder) (9/10)

What Ever Happened to Baby Jane?
(USA 1962, Robert Aldrich) (8/10)

All About Bette
(USA 1994, Susan F. Walker) (3/10)

Hereafter
(USA 2010, Clint Eastwood) (3/10)

Brighton Rock
(GB 2010, Rowan Joffe) (2/10)

Class of 1984
(USA 1982, Mark L. Lester) (5/10)

Class of 1999
(USA 1989, Mark L. Lester) (6/10)

127 Hours
(GB/USA 2010, Danny Boyle) (7/10)

The X Files – Season 4
(USA/CDN 1996, Kim Manners, Chris Carter u.a.) (8/10)

The X Files – Season 5
(USA/CDN 1997, Rob Bowman, Kim Manners u.a.) (7/10)

The X Files: Fight the Future
(USA/CDN 1998, Rob Bowman) (7/10)

Ich bin ein Star: Holt mich hier raus! – Staffel 5
(D/AUS 2011, Michael Maier) (9/10)