Dezember 14, 2006

Kino: PAN'S LABYRINTH

Es beginnt im Nirgendwo. Ein kleines Mädchen liegt im dunklen Blau der Nacht, regungslos, Blut läuft an ihren Wangen herunter, doch blickt man genauer hin, so fließt es in ihre Nase zurück, hier dreht sich die Zeit – ein Resultat, dessen Herleitung noch ungewiss ist. Dann verschwinden die Bilder schnell, das Düstere weicht dem Panorama eines strahlenden Herbstwaldes, gegilbte Blätter wehen im Wind, die Sonne funkelt immer stärker durch die sich lösenden Baumkronen. Hier setzt die Erzählung von einer schwangeren Mutter und ihrer kleinen Tochter an, sie sind auf der ländlichen Durchfahrt in eine abgelegene Gegend in Nordspanien, wo der Ehemann und Stiefvater, der im Dienste des Franquismus herrschende Capitán Vidal, sie mit einer unaufhörlich tickenden Stoppuhr erwartet – diese Erzählung, die unweigerlich zum Ausgang zurückkehren wird, ist von einer allgegenwärtigen Limitierung bestimmt, Zeit erscheint als Ausdruck von Ruhe und Gelassenheit, als kostbares Gut, das hier keine Verwendung finden wird.

Die kleine Ofelia ist das einzige Kind in dieser so bekümmerten Welt am Abseits, deren farbenfrohe Naturbilder nicht die alltäglich spürbaren Auswirkungen und Kämpfe des Bürgerkrieges verbergen können, wo sich jeder selbst der nächste scheint, keine Perspektive für die Augen eines unschuldigen Mädchen vorgesehen ist. "Pan’s Labyrinth" erzählt dennoch durch den Blick der jungen Ofelia, der Film begibt sich in Obhut und Wahrnehmung eines verträumten Kindes, das als einziges auf die verborgene Welt hinter der offenbaren Realität stößt. Denn dieser Wald, in dem das Blut der Rebellen und Francos Putschisten vergeudet wird, und dieses große Anwesen, wo Angestellte einer tyrannischen Unterdrückung ausgesetzt sind, da verweben sich die Schnittstellen zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung: Nur Ofelia weiß vom labyrinthischen Zwischenreich eines alten Fauns, der sie mit verantwortungsvollen Prüfungen versieht, um das unterirdische Königreich mit ihr als wiedergeborene Prinzessin aufleben zu lassen.

Der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro durchmischt bei seiner kindlichen Erlebniswelt konsequent alles Rationale und Irrationale, was der unbefleckten Sicht seiner Protagonistin nicht entsprechen würde. Für Ofelia – und somit auch für den Zuschauer – existieren keinerlei Grenzen zwischen der kriegerischen Welt der Menschen und dem Reich der Fabelwesen, mitunter bedingen sie sich gegenseitig, zwar ohne Bewusstsein, aber folgenreich. Die Surrealität dieses Entwurfs wird problemlos akzeptiert, durch die Aufgaben und Prüfungen des Mädchens sieht die strenge inhaltliche Struktur auch keine Möglichkeit zur Separierung dieser beiden Welten vor. Ofelia als Entsprechung eines modifizierten Quests, auf der Suche und Flucht zugleich, meistert die Hürden der einen wie die der anderen Dimension unwidersprüchlich. Ihr Schicksal steht in Abhängigkeit zu dieser Symbiose von Wahrnehmungen, die Aufgaben des Fauns sind irrationaler Schlüssel zur Bewältigung vollständig rationaler Gegebenheiten, als Ausdruck eines selbst konstruierten Paralleluniversums, das ein Wirken gegen die Allmacht realen Schreckens nur mit der Kraft des Phantastischen ermöglicht.

Damit löst der brillant photographierte Film gleichzeitig auch jeglichen formalen Raum auf, sein Zeitkontinuum wird als Bedrohung (Ofelia muss die Aufgaben zügig vollbringen, eher sich der Mond verdichtet) zwar immer wieder betont, doch die Grenzenlosigkeit von Realität und Vision lässt die Fantasie, und damit das Ungezwungene, Lösende, unaufhaltsam erscheinen. Im Genre werden die narrativen Mittel oft schon ihrer technischen Bebilderung wegen in eine fiktive Welt verlagert, die sich prinzipiell von der irdischen zu unterscheiden hat. "Pan’s Labyrinth" durchbricht dieses Schema allein durch seinen Ansatz, bei dem die Fantasy aus dem Wirklichen heraus entsteht. Del Toros Verständnis von Magie definiert sich über das Bewusstsein des Individuums: Es ist nur so viel davon möglich, wie man auch zu ermöglichen bereit ist. Fantasy, das sind keine Drachen, keine gewaltigen Monster, keine Zauberer, das ist in erster Linie eine Frage der Wahrnehmung, es ist die Möglichkeit zur schützenden Flucht, die simplifizierte Reflektion des Realen, ein Abbild der Seele. Die Fantasy wird evoziert aus den inneren Abgründen des Menschen.

Es kann faktisch zwar eine nüchterne Desillusion sein, die mancher darin sehen mag (Religion als spielerische Imagination des Ichs), tatsächlich aber ist das der Kern all des Phantastischen. Del Toro adressiert das Verklärte des Realen, um ihm mit einer visionären Ode den Sieg des Magischen vorzuführen. Deshalb wird "Pan’s Labyrinth" gewiss zu einem Meilenstein des Genres avancieren, mit seiner herausragenden Hauptdarstellerin geht er den direktesten Weg zum Herz des Publikums. Der minimalistische, mitunter kammerspielartige Film mag brutal, nicht besonders Mainstream orientiert und zutiefst tragisch sein, doch er ist so voller wahrer Fantasie, wie vielleicht kaum ein zweiter seines Topos’.


70%


Review erschienen bei: Wicked-Vision.de