Februar 22, 2017
Oscars 2017 – Überraschungen wird es keine geben
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März 25, 2014
Kino: OUT OF THE FURNACE
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August 21, 2012
Kino: PARANORMAN

Juli 17, 2008
Retro: GERRY (2002)

Einen Grund hat das alles nicht, zumindest keinen formulierten, und aus den wirr-konfusen Sprachfetzen der beiden Gerrys lässt sich auch kein Mehr ableiten, kein Anhaltspunkt für die doch so willkürlich erscheinende Marsch-Odyssee setzen. Doch eine Antwort muss Gus Van Sant nicht einräumen, wenn es ja auch keine Fragen zu stellen gilt, wo "Gerry" mit seiner kühnen Abkehr vom klassischen Erzählen und einer Textur der Übersicht, der Ordnung da beginnt, wo andere eigentlich aufhören: Allen voran der Regisseur selbst, der hier kein mathematisches Kino – berechnet nach Formeln, die "Good Will Hunting" erfolgreich zum liebsam harmonischen Gutmenschendünger knobelten – mehr bedienen, kein Studio mehr zufrieden stellen muss, sondern sich hinaus wagt. "Gerry" ist draußen. "Gerry" ist Bewegung. Ein völliger Verzicht auf Rahmen, Struktur, Räumlichkeit. Der Film ist Reduktion im nicht reduzierbaren Raum. Eine einzige große Ellipse, die sich selbst ausspart. Ein Zurücklassen, Abstreifen, Hinauswachsen. Immer nach vorn, laufen, laufen, laufen.
Vorbild Béla Tarr: "Werckmeister Harmonies" & "Gerry" (Quelle)
Es ist das, was notwendig war, was es zu beweisen galt für Van Sant. Die Rückkehr zum Independentfilm, zur Überschaubar- und Kontrollierbarkeit, zur freien Bewegung. Eine doppelte Initiation: Die eines Regisseurs, der zu sich selbst finden muss. Der einen Teil von sich abgibt. Und die eines Matt Damon, der Casey Affleck liegen lassen muss, um in das Auto von Vater und Sohn steigen zu können. Ein Ritus, ein schweigsamer Kampf gegen das unüberwindbare Selbst, eine Coming-of-Geschichte: Des Alters, vom Erwachsen- werden und vom Reifen – mit jugendlicher Lagerfeuerromantik und Jungenspielchen, mit Verstecken, Suchen, auf Felsen klettern. Der irre Marsch durch die Wüste als Prozess des Verlierens und Findens, als sinnliche Metapher für den Widerspruch der Adoleszenz. Nur ohne Teenager. Nicht mehr wie bei "Mala Noche" oder "My Own Private Idaho", noch nicht wie bei "Elephant" oder "Paranoid Park". Und ebenso eine Coming-of-Geschichte vom Ende der Unschuld, endlich. Nicht mehr dazwischen und nicht mehr im Nirgendwo. "Gerry", auch ein Coming-Out-Film.
Dass die Struktur der Strukturlosigkeit – oder: das Arbeiten gegen die Konvention, gegen die Erwartung – später auch den elegisch-spirituellen Todesmarsch Kurt Cobains begleiten wird, es ist dann leider die Rückkehr zum Casey-Gerry, die Matt-Gerry nicht gut tut. Der universellen Kraft weicht der konkrete Bezug, die Auf- und Erlösung, das Erliegen im Kampf: "Gerry" und "Last Days" – unglückliche Zwillinge – gerrying down the road.
80%
Dezember 16, 2007
Kino: THE ASSASSINATION OF JESSE JAMES...
Brad Pitt spielt diese Figur als Ikone, die sich majestätisch über ihr Umfeld positioniert und die Entstehung als eigene lebende Legende mitverfolgt. Dem Stolz seines Jesse James ist eine verkümmerte Todessehnsucht gleich. Ganz so als wüsste er vom Ende seiner Karriere, vom baldigen Abgesang, steht er zwischen weiten Gräsern, blickt auf sein gespiegeltes Ich im Eis und verweilt in seinem Garten, eine Zigarre rauchend, auf den Tod wartend. Dieser Mann ist 34, doch seine bewegte Geschichte steht ihm ins Gesicht geschrieben: Es wirkt wie das Gesicht eines welken Antihelden.
Dominiks Neuinterpretation basiert auf einer 1983 veröffentlichten Literaturvorlage und unterscheidet sich merklich vom verklärenden Grundtypus vergangener Jesse James-Bearbeitungen. Dieser gebrochene Räuber und Mörder hat nichts Ehrenwertes mehr an sich, ist niemand, der ein klassisches Amerika vor seinem Frühkapitalismus schützt, der Banken und Züge überfällt, um zu einer Outlaw-Legende des kleinen großen Privatmannes zu reifen – und doch ist er ein Star, ein früher Popstar sozusagen. Er ziert die Titelseiten der Zeitungen, liefert Stoff für Comics, Geschichten, Erzählungen über ihn. Und er hat Fans, Verehrer, so wie den jungen Bob Ford, der seiner Bande angehört, aber beständig an seine Unfähigkeit erinnert wird. Er steht im Schatten des Jesse James, obwohl er genauso groß ist, genauso blaue Augen hat und seinem Idol doch sowieso ebenbürtig sei, wie er es eines Abends am Essenstisch verkündet. Was nur Gelächter erntet.
Der Film streift sein anfängliches Bild, geprägt von einem dicht inszenierten nächtlichen Zugüberfall, immer nur beiläufig, aber die vermeintliche Heldenbande um Jesse James skizziert er als ziellose und verwirrte Gruppe brutaler Taugenichtse. Diese Männer sind keine ritterlichen Geber, die den Vormarsch der Industrialisierung mit südstaatlichem Post-Bürgerkriegseifer zu bekämpfen versuchen, um die Habseligkeiten der ‚großen’ an die ‚kleinen’ zurückzubringen. Auch wenn der Film die Verklärung seines untersuchten Mythos’ selbst zugeben muss, sei es in der Presse, der Rechtssprechung oder der Kultur – schließlich wird all das Gesehene zu einem Stück trivialen Theaters verkommen –, achtet er ganz bewusst darauf, neue Blickwinkel auf Jesse James und seine Mitstreiter zu schaffen. Denn indem diese Gefolgschaft in sich verraten und zersetzt endet, kreiert der Film auch eine Metapher für die Unaufhaltsamkeit der Moderne, deren Züge sprichwörtlich längst am Anrollen sind. Man hat hier eine Meditation über den Western vor sich, die bald zum Abgesang werden muss.
Dies übernimmt zu einem wesentlichen, wenn nicht dem wesentlichsten Teil des Films die Bildsprache. "The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford" nennt Bilder sein eigen, die man in dieser Form noch nicht gesehen haben dürfte. Sie werden durchbrochen von Licht, immer wieder, immer und überall, es flutet die dichten Wälder bei Nacht, es strahlt die kargen Bäume kurz vor der Hinrichtung an, es reflektiert am ewigen Eis und an sonnengelben Kornfeldern. Man meint den winterlichen Schnee spüren und die Ernte riechen zu können, die diese Bilder ablichten. Sie erinnern an die Kompositionen eines Terrence Malick, und sie brechen mit optischen Western-Klischees weiter Prärien, unendlicher Länder und daraus abgeleiteter Freiheit.
Besonderen Fokus aber legt Dominik dabei gar nicht zwangsläufig auf seine mythische Figur, sondern widmet sich sorgfältiger deren Anhänger Ford. Dieser ist weniger Feigling, als selbst bestimmter Schmied des eigenen Glücks. Er kämpft an der Seite seines Vorbildes, bis er ihm schließlich den Rang einer Legende abzunehmen versucht. Hier erweist er sich zumindest in einer Hinsicht als würdiger Nachfolger: So wie Jesse James mitunter weniger Energie in seine Straftaten zu stecken, als vielmehr die eigene Reputation zu organisieren scheint, so reift Ford vom Zeitungssausschnitte sammelnden Bewunderer zum eigenen Objekt der Begierde, zumindest in der Versuchung. Freilich ist Casey Affleck hier eine Sensation, mit welch steinerner und zugleich zarter Mimik, verschlossener Hilfsbedürftigkeit und unberechenbarer Handlungskraft er die unsichere Möchtegern-Legende verkörpert, mit welch unterdrücktem Hass seine Blicke erfüllt sind, wie sie gleichermaßen auch eine unausgesprochene Liebe zum Idol auszustrahlen meinen, das wird zweifellos zu den nennenswertesten schauspielerischen Leistungen des Jahres gehören.
Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford schließlich gleicht eher einer freiwilligen Vollstreckung. Dem Blick nach Erlösung scheint hier Rechnung getragen, es ist, als wenn Jesse James dem Tod schon so lange ins Gesicht hatte blicken wollen. Seine Kraftlosigkeit durchzieht jedes Bild des Films, sowie jede Einstellung, in der vergeblich ein Stück Lebensenergie zurückerlangen will. Doch weder das traute Heim, noch die spielenden Kinder oder sublime Anziehung zum Ziehjungen Ford sind Ansporn genug. Die tragischste Figur ist überdies ohnehin der ungekrönte Westernheld Ford, der auch nach seiner Tat nur weiterhin Gegenstand einer ständigen Verballhornung sein kann. Ein Verlierer davor und danach, sogar den eigenen Abgesang darf er abends in der Trinkerspielunke über sich ergehen lassen. Und so wird ein Akt, der neue Helden hervorbringen sollte, zum persönlichen Lebenstrauma: Über 200mal spielt Ford die Ermordung auf der Bühne nach. Am Ende war’s dann doch nur großes Theater, die Legendenmär.