Eigentlich bildet die Figur des Sohnes Anthony den Mittelpunkt von "Savage Grace": Die frühe Verantwortung, die er zu tragen hat, als Ersatzpartner nicht nur die sexuellen Bedürfnisse der Mutter zu befriedigen, sondern auch auf ewig eine symbiotische Beziehung mit ihr zu führen – über alle räumlichen und zeitlichen Stationen, die der Film durchläuft. Basierend auf dem 1985 veröffentlichten Buch "Savage Grace: The True Story of a Doomed Family" erzählt der Experi- mentalfilmer Tom Kalin in seinem Spielfilmdebüt die wahrlich beklemmende Geschichte einer dekadenten Wohlstandsfamilie, die, in ihren eigenen Moralvorstellungen gefangen, langsam zugrunde geht. Es ist ein Film über ungesunde Verhältnisse zwischen Menschen, über die zerstörerische Kraft der Familie, und über tiefe Einsamkeit. Und obwohl "Savage Grace" ziemlich unkonzentriert in Szene gesetzt ist, er den eigentlichen Mutter-Sohn-Konflikt, mit dem er beginnt und auf den später auch alles hinauslaufen wird, zwischenzeitlich völlig vernachlässigt, ist dies ein mitreißender Trip in seelische Abgründe, der einige der sinnlichsten und beunruhigenden Szenen des Kinojahres vereint. Julianne Moore ist eine Offenbarung, ihre ganze Zerbrechlichkeit und Hysterie zu einer Figur gebündelt, deren komplexe Facetten sie in ein ungemein intensives, faszinierendes Spiel einbindet. Und auch wenn der Film vielleicht etwas zu elegant scheint, etwas zu schön ist für so viel Hässlichkeit – er zieht einen tief hinein in diese spannende, unausweichlich tragische Geschichte.
70%