Oktober 23, 2007

Kino: EASTERN PROMISES

In "A History of Violence" - einer Geschichte der Gewalt – hat David Cronenberg unter anderem Struktur und Form einer kleinbürgerlichen US-Familie und gleichzeitig ihren gesell- schaftlichen Rahmen untersucht. Er bezog sich dabei auf eine Art ikonische Mythenkonstruktion, in deren Innern ein unstillbarer, auf verdrängte Sexualität zurückzuführender Gewaltdrang lauert, der unterdrückt und verleugnet wird, und der sich doch irgendwann den Weg des Ausbruchs sucht. Bis dahin hatte sich der Kanadier eher verhalten mit familiären Systemen beschäftigt, auch wenn es schon in "Crash" um die Selbstbeherrschung, Domestizierung und Rückentwicklung der menschlichen Sexualität ging – was für ihn letztlich immer zu einer radikalen Form der Überreaktion führen muss. 

Abgesehen von einer Nebenfigur (Vincent Cassel), die ihr Schwulsein nicht in den Griff bekommt und deshalb offenbar zu besonders ausgeprägtem Gewaltverhalten neigt, vernachlässigt Cronenberg diesen Gedanken in seinem Folgefilm "Eastern Promises". Ebenfalls mit Viggo Mortensen in einer komplexen Hauptrolle besetzt, wirkt er fast wie eine zeitlich und räumlich verschobene Fortsetzung von "A History of Violence". Noch wesentlich mehr als dieser funktioniert „Eastern Promises“ als gradliniger, spannender Genrefilm ohne nennenswerten metaphorischen Unterbau, ohne die Gedankenspiele eines Widerspruchs zwischen Geist und Körper, und leider auch ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit seinem Mittelpunkt – der russischen ‘Vory V Zakone’-Mafia im modernen London. Über 100 Minuten Laufzeit hinweg findet der Regisseur keinen Zugang zum Stoff. Oder umgekehrt. Es ist Cronenbergs bislang unin- teressanteste Arbeit.

Eines der wesentlichen Probleme des Films ist seine Unentschlossenheit. Er weiß zwar, was er erzählen möchte, nur offensichtlich nicht wie er das soll. Es geht um Mafiageschäfte, Familybusiness und das Leben als Exilant, um russische Gangster in Armanianzügen, die sich in gewöhnlichen Londoner Vortorten niedergelassen haben. Es geht um Feste, Rituale und Morde, um Blicke, Gesten und Dialekte, und immer spielt da auch ein wenig die physische Bedrohung, die Unberechenbarkeit mit, die das Handeln der Figuren so unvermittelt erscheinen lässt. Cronenberg reproduziert hier fast ausnahmslos Klischees, gängige Kinobilder von Mafia und Co., wie man sie auf der Leinwand seit Francis Ford Coppolas "The Godfather" zu genüge gesehen hat. Armin Mueller-Stahl spielt das Familien- oberhaupt, den mafiösen Patriarchen, mit einer fast erschreckenden Gewöhnlichkeit – seine Figur entspricht lediglich dem gängigen Muster eines Clanchefs und erinnert meist unweigerlich an Marlon Brando. Stärken offerieren sich lediglich in der Darstellung von Misogynie: Das verächtliche Frauen- und Mutterbild des Männerklüngels ist bitterer Ausdruck einer totalen sexuellen Repression (siehe Cassel). Hier demonstriert Cronenberg bemerkenswert anders als ein Sergio Leone in "Once Upon A Time In America", wie man zutiefst chauvinistische Strukturen zeigen kann, ohne selbst dem frauenfeindlichen Fokus zu erliegen.

Es bleibt dennoch völlig unklar, warum er so sehr darum bemüht ist, keinerlei eigenen Blickwinkel zuzulassen. Wie in einem gewöhnlichen Genrefilm geht es in der Handlung von "Eastern Promises" um große Deals und konkurrierende Gruppen, und selbst in den eigenen vier Wänden bewegen und sprechen die Figuren meist theatralisch und mit überzogenem Gestus. Der Film versäumt es – wie viele andere auch – das Mafiageschehen als verselbstständigte, gänzlich alltägliche Bewegungskette darzustellen, sondern verleiht allem eine besondere Note, Ansprache oder Bedeutung. Das erinnert vielmals an das letzte Viertel in "A History of Violence", wo Cronenberg bereits ähnlich verfuhr und aus irgendeinem Grund nichts gegen das grausame Over Acting William Hurts unternahm. Dieser verrenkte sich mit bemühtem Akzent, eine möglichst konventionelle Kinofigur abzugeben, und kann problemlos als Kostprobe für das Figurenkonzept in "Eastern Promises" angesehen werden.

Womöglich fiele Cronenbergs behäbige Konstruktion weitaus weniger ins Gewicht, würde er nicht gleichzeitig einen gewissen Realismusanspruch verfolgen. Die Geschichte eines jungen russischen Mädchens, das vom Mafiaclan fest- gehalten, vergewaltigt, drogenabhängig und schwanger wurde, bildet die Grundlage für gesellschaftliche Verweise, wenn hochmoderne Großstädte mit Menschenhandel und sklavenähnlichem Missbrauch zu kämpfen haben. Cronenberg kreiert bewusst ein düsteres Stimmungsbild, das eher selten den Weg der Stilisierung sucht (anders als z.B. in "M. Butterfly", wo der chinesische Raum verformt wurde, um ganz bewusst keine allzu realistischen Implikationen zur Kulturrevolution hervorzurufen). In diesem Zusammenhang wirkt der Film noch unausgegorener zwischen Illusionsstiftung und Realitätsabbildung, da seine lediglich nach bekannten Klischeemustern gestrickten Figuren immer wieder die authentische, auf wahren Recherchen beruhende Intention behindern. Besonders störend ist hierbei der Umstand, dass sich die Familienmitglieder fast durchgehend mit gebrochenem Englisch verständigen, anstatt ganz einfach in der eigenen Muttersprache Russisch zu kommunizieren – insbesondere da es in Absprachen untereinander aufgrund mangelnder Englischkenntnisse zu Missverständnissen kommt.

"Eastern Promises" fehlt außerdem der Fokus. Wessen Geschichte erzählt er eigentlich? Die eines Mafia-Chauffeurs (Mortensen), der insgeheim vielseitige Interessen zu verfolgen scheint, oder die einer Hebamme (Naomi Watts), die mit Mutter und russischem Onkel zusammenlebt, und eines Nachts jenes schwangere Mädchen behandeln muss, das die Handlung in Gang setzt. Das neu geborene Kind zieht sich nun wie ein roter Faden durch den gesamten Film, immer mit der Symbolik einer Hoffnung, einer Unschuld beladen. Die Mafia verlangt das Tagebuch der bei der Geburt verstorbenen Mutter, da es interne Informationen enthält und belegt, wie das immigrierte Mädchen (‚östliche Versprechen’) missbraucht wurde, und droht schließlich damit, das Baby zu ermorden. Da Watts’ Figur zuvor einmal eine Fehlgeburt erlitt, hütet sie das Kind gleich mit doppeltem Eifer – und freilich ist ihre Motivation deshalb ein wenig platt und simpel. Ganz ebenso wie übrigens auch die als Voice Over vorgetragenen Ausschnitte des Tagebuchs wenig von Cronenbergs sonst so bemerkenswerter Subtilität aufweisen.

Interessant wirkt der Film unter dem Gesichtspunkt einer Umkehrung seines Vorgängers. War es in "A History of Violence" Ed Harris, der einen mafiösen Gangster mimte und den scheinbar unschuldigen Viggo Mortensen als Bedrohung von außen heimsuchte, so verkörpert dieser nun wiederum den mysteriösen, gefährlich wirkenden Exoten, der der betulichen Naomi Watts nachschleicht. Ihre Figur weist einige Parallelen zu der von Mortensen gespielten Tom Stall-Rolle auf: Bei beiden lässt sich die Vergangenheit nicht ausschalten, die Identität nicht leugnen, das Unterdrückte nicht länger bändigen. Die Bedrohung, die von der ‘Vory V Zakone’ ausgeht, erinnert Watts Charakter an ihre eigenen russischen Ursprünge, mit denen sie sich über kurz oder lang auseinandersetzen muss. Um was genau es sich dabei handelt (im Fall von Tom Stall war es bekanntlich die zurückliegende Karriere als Gangster), wird jedoch nie klar, wie überhaupt der Film zugunsten seiner straffen Genreerzählung alles nur anreißt. Es wirkt fast so, als vermeide Cronenberg krampfhaft jeden Tiefgang, was "Eastern Promises" nicht weniger unterhaltsam, aber deutlich flacher erscheinen lässt.

Dies wird besonders in einer ganz bestimmten Szene deutlich. Mortensens Figur sitzt in einer Sauna und wird überraschend von zwei Mitgliedern eines gegnerischen Clans angegriffen. Sein von Tätowierungen übersäter Körper landet auf den kahlen Fliesen des Bodens und wird an die Wand gedrückt. Das pure Fleisch kämpft ums Überleben, die Schweißperlen rinnen daran herunter, und es fließt viel Blut. Es ist eine beängstigend physische Szene, die in ihrer Unmittelbarkeit und Drastik die Wirkung nicht verfehlt. Sie gehört ganz sicher zu den Höhepunkten aller Cronenberg-Filme, doch im Kontext von "Eastern Promises" bleibt sie isoliert und folgenlos. Obwohl dies äußerlich einen klassischen Cronenberg-Moment darstellt, bleibt es nur ein kurzes Aufblitzen ohne Bedeutung, ebenso wie andere ähnliche Bilder im Verlauf des Films (das nahe an das Motorrad heranfahrende Auto, der Blick in die Borschtsch-Suppe oder das Durchtrennen der Nabelschnur). Auch das Motiv des Tätowierens wird nicht weiter aufgegriffen, es ist nicht mehr als ein vorantreibendes, aber banales Element der Handlung.

Wenn der Film dann, wie in der Badehaus-Szene, zeitweise in regelrechte Höhen schießt, möchte man Cronenberg dankbar sein. Doch "Eastern Promises" kehrt immer wieder zurück zu seiner Simplizität und lässt manch inszenatorisches Kabinettstückchen für sich allein stehen. Das alles wäre verhältnismäßig ungewichtig, würde er den bisherigen Arbeiten des Regisseurs zuletzt nicht so vehement in den Rücken fallen. Analysierte Cronenberg in "A History of Violence" noch eindrucksvoll das Konstrukt der Familie, das nur durch Verschwiegenheit und Lüge bestehen kann, und stellte letztendlich sogar die Frage, inwieweit Familie gleichbedeutend mit Gewalt sei, so scheint ihm mit "Eastern Promises" eher der Sinn nach Konsens zu stehen. Das inhaltlich wenig glaubwürdige Ende erhält indes eine besonders bittere Note, wenn die Theorie vom Hoffnung und Neubeginn suggerierenden Kind in die Praxis überführt wird. Familie als Happy End-tauglicher Rettungsanker – von Cronenberg hätte man dann doch ein wenig mehr erwarten dürfen. 


50%