Oktober 06, 2007

Kino: SE JIE (LUST, CAUTION)

Es sei Ang Lees persönlichster Film, heißt es. Nerven- zusammenbrüche hätten die Dreharbeiten begleitet, und trotz einer heftigen Grippe soll der Regisseur Sonderschichten eingelegt haben, um jeden der 118 Drehtage mit voller Kraft bewältigen zu können. "Lust, Caution" wurde bei den Filmfestspielen von Venedig zwiespältig besprochen, gemessen selbstredend an seinem Meisterwerk "Brokeback Mountain", und erhielt dennoch erneut den Goldenen Löwen als bester Film. Man kann diese Mischung aus Spionagethriller und Erotikdrama, aus Politkrimi und Kostüm-Melodram, versehen überdies mit Film Noir-Anstrichen und angesiedelt vor düsteren Kriegsschauplätzen, ganz sicher nicht mit Lees Genre transzendierendem Vorgänger vergleichen: Wo kein Detail zu viel, keine Nuance zu wenig und kein Bild nicht mindestens zweideutig war, wo mit begnadeter Hand eine der intensivsten, erschütternden und zutiefst empfindsamen Liebesgeschichten aller Zeiten erzählt wurde – da also, wo Ang Lee einen ganzen Kinomythos überwunden hat, kann dieser Film ganz einfach nicht anknüpfen.

Hongkong 1938: Die junge Studentin Wong Chia Chi (Tang Wei) schließt sich einer Theatergruppe an, die mit propagandistischen Stücken den chinesischen Patriotismus aufrechtzuerhalten sucht. Bald formiert sich aus der Gruppe Studenten eine geheime Widerstandsbewegung, die mithilfe falscher Identitäten Informationen über die japanische Besatzungsregierung erspitzeln will. Im Zentrum der Spionageaktion steht dabei der chinesische Beamte Mr. Yee (Tony Leung), der mit den japanischen Invasoren zusam- menarbeitet. Wong operiert fortan unter dem Namen Mak Tai Tai und mischt sich langsam unter eine Gruppe von Gesellschaftsdamen rund um Mr. Yees Ehefrau (Joan Chen). Bald hat sie dadurch direkten Kontakt zu ihrer Zielperson und beginnt eine Affäre mit dem mysteriösen Mann. Die Operation wird jedoch durch einen Zwischenfall vorzeitig abgebrochen. Erst einige Jahre später, 1941 und dieses Mal in Shanghai, soll Wong ihren Auftrag zu Ende führen.

Es wäre eine Erklärung, dass dieser Film als erste Arbeit des taiwanesischen Regisseurs, des Filmemachers im Widerspruch aus östlicher und westlicher Wahrnehmung, zwischen Yin und Yang und Christentum, alter und neuer Welt, inneren Drachen und äußeren Tigern, emotional nicht greift, weil er zu persönlich motiviert scheint. Dass "Lust, Caution" so distanziert wirkt – und nicht nur deshalb, da er eine entfremdete Zeit widerspiegelt, sondern ihr und seinen Helden auch mit ungewohnt seltsamer Entfremdung gegenüber tritt –, weil sein Schöpfer sich mit ihm gemeinsam eigenen kulturgeschichtlichen, heimatlichen Dämonen gestellt haben könnte. Und so ambitioniert der Film auch sein mag, er erreicht nicht die tiefen Dimensionen all der anderen Arbeiten Lees; er ist ein erster Schritt, längst aber keine Auseinandersetzung mit seiner Geschichte, er zeigt zutiefst faszinierende Figuren, erzählt aber kaum etwas über sie, und er spinnt komplexe Handlungsfäden, ohne ihnen Motivationen zu geben. Auch wenn Meister Lee all das mit unfassbarer Eleganz vorführt – und der Film allein seiner betörenden Musik wegen wahrgenommen werden muss.

Zweifellos enthält "Lust, Caution" viele Elemente, die ihn einreihen neben "The Wedding Banquet" und "Sense and Sensibility", neben "The Ice Storm" und "Ride with the Devil". Er berichtet von Umwälzungen, Neuausrichtungen, kulturellen Veränderungen. Davon, wie alte Muster schwinden und neue entwickelt werden (müssen), und wie die einzelnen Subjekte in diesem Stadium zu sich selbst finden, sich ihre Identität bewahren und all den Verlust von Harmonie, Familie und einen Teil der Heimat und damit immer auch von sich selbst bewältigen können. Wong Chia Chi ist so eine Figur, die als Heldin eines Ang Lee-Films vieles von sich aufgeben muss, um die Veränderungen ihrer Welt überstehen zu können. Doch es gelingt dem Film nicht, eine Beziehung zwischen ihr und dem Zuschauer zu entwickeln. Es bleibt unklar, welche Motivation die Figur antreibt, es gibt kaum Momente, in denen wir etwas über sie erfahren. Der zweieinhalbstündige Film ist oft kaum nachvollziehbar in seiner Aktion, setzt falsche Schwerpunkte und bleibt meist kühl, fremd, unnahbar. Was bleibt sind Mutmaßungen: Vielleicht weil Wong Chia Chi aus Vaterlandsstolz handelt, aus Liebe zu einem ihrer Mitstreiter oder vielleicht sogar zur Zielperson, dem brillanten Tony Leung. Aber ersteres wird kaum angeschnitten, und über letztgenanntem schweben große Fragezeichen noch weit über den Abspann hinaus.

Den richtigen Ansatz hat Lee dabei ganz sicher gewählt. Es sind die unverhüllten Sexszenen, die etwas über das Seelenleben, über die inneren Zustände und Triebe der Hauptfiguren – und die stillen Figuren sind in Lees Filmen der Schlüssel zu allem – offenbaren. Sie sind so direkt, wie es nötig ist, und so wenig voyeuristisch, wie man es von ihrem Regisseur erwarten darf. Nie ergötzt sich der Film an ihnen, nie bedienen sie simple Erotik, sondern sind als wesentlicher und vorantreibender Bestandteil der Handlung essentiell. Die Nacktheit der beiden Figuren, ihr akrobatischer Sex, ihr Masochismus und der Hang zur Selbsterniedrigung sagen mehr über sie als all der konfuse, lediglich grob skizzierte Rest des Films. Diese Szenen geben eine Idee davon, was aus "Lust, Caution" hätte werden können – und auch werden müssen. "Wenn ich einen Film in englischer Sprache drehe, finde ich den Faden viel schneller, als wenn ich einen Film auf Chinesisch drehe.", hat Ang Lee 2005 in einem Interview gesagt. So bedauerlich es auch ist: Hier findet er ihn leider gar nicht.


55% - erschienen bei DAS MANIFEST