Juni 11, 2011

Zuletzt gesehen: TORN CURTAIN

"Glaubt man den Exegeten, dann zählt die Angst, unschuldig eingesperrt zu werden, zu Hitchs favorisierten Ängsten. Zwei seiner, wie ich finde, schlimmsten Machwerke, I CONFESS (1952) und THE WRONG MAN (1956), legen davon Zeugnis ab. Man quält sich in diesen schier endlosen Filmen, die sämtliche Rituale menschlicher Schuldverstrickung wiederkäuen, über die Runden und stellt nur schulterzuckend fest: Solche Jammergestalten (die von Montgomery Clift und Henry Fonda gespielten Hauptfiguren), die als permanente Entschuldigung der eigenen Existenz umherschleichen, gehören aus dem Verkehr gezogen, weil sie ihren Mitmenschen ganz furchtbar auf die Nerven gehen. […]

TORN CURTAIN war der erste Hitchcock-Film meines Lebens und wurde, weil ich ihn als 14jähriger auf durchaus unterhaltsame Art total bescheuert fand, das Fundament meiner in Zement gegossenen Überzeugung, daß Hitchcock nicht ganz dicht sein mußte. […]

Doch mit inhaltlichen Ungereimtheiten (um es sehr dezent zu formulieren) darf man den beinharten Hitchianer nicht konfrontieren, denn ihn interessieren nicht glaubwürdige Geschichten, sondern technische Kabinettstückchen und die unzähligen Neuerungen, um die sein Idol angeblich den Kanon der kinematographischen Ausdrucksformen erweitert hat. Die härtesten Brecher unter Hitchcocks formalen Mankos, geradezu seine Markenzeichen, sind schlampige Deko- rationen, infantile Miniaturen und miese Rückprojektionen. In TORN CURTAIN läuft er diesbezüglich zu ganz großer Form auf. Traumwandlerischer Höhepunkt ist die Sequenz, die in einem Bus von Leipzig nach Ost-Berlin spielt. […]

Doch all das ficht die Fangemeinde nicht im geringsten an. Sie hat sich längst eine Theorie zurechtgeschustert, nach der das haargenau so sein muß, beim großen Hitch. Diesem windigen Erklärungsmodell nach sollen die intendiert unwirklichen, kulissenhaften Bildhintergründe und Exterieurs auf das gestörte Verhältnis aufmerksam machen, das viele Protagonisten Hitchcocks zu ihrer Umwelt haben. Fragt sich nur, wer da gestört ist."

Ulrich von Berg: Torn Curtain. In: Alfred Hitchcock. Lars-Olav Beier / Georg Seeßlen (Hg.)


1. - "Torn Curtain" gilt meines Erachtens zu Unrecht als (verhältnismäßig) schlechter Hitchcock-Film.
2. - Er zeichnet das wahrscheinlich groteskeste DDR-Bild der Filmgeschichte.
3. - Ist er dabei unnachahmlich vergnüglich bis trashig, besonders wenn russische Banditen Leipziger Landstraßen unsicher machen.
4. - Hat der Film einige der besten, wenn auch ganz und gar sinnlosesten Suspense-Momente im gesamten Hitchcock-Werk.
5. - Ist obiger Text eine Freudenlektüre vom Feinsten, nicht weil ich ihm inhaltlich sonderlich zustimmen würde, aber weil er pointiert diffuse Rezeptionsmuster ("traumwandlerisch", "unwirklich" und andere aussagelose Adjektive zur Filmbeschreibung) aufs Korn nimmt.


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