Diese Frage wurde einhellig beantwortet – trotz vieler Oscarnominierungen und anderem Getöse ist dies nicht einmal mehr 10 Jahre nach seiner Veröffentlichung ein vergessener Film, ein multipler Thriller unter vielen eben, den man eigentlich nicht wirklich braucht, wenn man "Plein soleil" hat. Das kann nur zwei Gründe haben: Entweder wurde Minghellas nach dem Oscarreigen heiß erwartete und dadurch zum Prestigeobjekt verklärte Arbeit so stark unterschätzt, das sie im schnelllebigen Festivalstrudel seinerzeit schlicht übersehen blieb. Oder aber die prädestinierte Kritik und mit ihr die Mehrheit des Publikums haben diesen Film gar nicht sehen wollen – weil genau das, was da in ihm schlummert, was ihn zu einem der meistverstörenden und -aufwühlenden Meisterwerke der jüngeren Vergangenheit macht, auch schlicht zu unerwartet scheint vom Mann, der gerade eben noch Juliette Binoche in triefend-selbstgefällige Püppchen- bilder hüllte.
Es ist dies eine Einladung zu sich selbst. "The Talented Mr. Ripley" nimmt den Zuschauer weder an die Hand, noch umgarnt er ihn mit konventionellen Erzählkonstruktionen und simplen Figurenmustern. Vielmehr zwingt er ihn mit nahezu symbiotischer Gier hinein in ein tiefenpsychologisches Paradigma dafür, wie stark die reflexive Wirkung eines Films sein kann. Das meint eine Auseinandersetzung nicht nur mit dem rein narrativ formulierten Gestus um Spannungsverlauf zwischen Hitchcockschem Identity-Thrill und Liebesdrama, sondern mit der unheimlich dichten und beängstigend direkten Metaebene, auf der Minghella die komplexen Abgründe seiner Figuren ausbreitet. Matt Damon verkörpert einen Tom Ripley, der nicht einfach nur an schizophrenen Mustern erkrankt, von Eifersucht, Selbsthass und gefährlichem Kontrollwahn getrie- ben ist ("I always thought it would be better, to be a fake somebody... than a real nobody. "). Er ist weder aus- schließlich die Inkarnation des subtilen Bösen, noch der bemitleidenswerte Unschuldsengel. Tom Ripley ist ein filmisches Chiffre, das eine Vielzahl existentialistischer Fragen in sich vereint – und vom Zuschauer den Willen zur Auseinandersetzung mit eben diesen einfordert.
"The Talented Mr. Ripley" ist genau deshalb so erschreckend vielschichtig wie auch zersetzend, denn er vereint in sich geschlossen einige der grundsätzlichsten und ungemütlichsten Themen des menschlichen Daseins. Natürlich geht es um die Suche nach sich selbst, dem Willen zu einer integren Persönlichkeit, dem Wunsch nach Liebe, Bedeutung, Existenz. Und es geht darum, sich seines Menschseins zu versichern ebenso wie zu einem Konsens vom Lebenssinn zu finden. Das sind die üblichen Denkanstöße, die manch Genrefilm mehr oder weniger evoziert, mit ihnen spielt, sie ankratzt oder im günstigen Fall auch auslotet. Minghella jedoch geht noch einige Schritte weiter. Sein Ansatz der Figur und deren filmisches Umfeld behandelt nicht nur die Suche nach einer sexuellen Identität, sondern setzt sich vor allem damit auseinander, wie ungleich schwieriger der Kampf gegen sich selbst auch dann sein kann, wenn man diese erlangt hat.
Tom Ripley weiß, dass er homosexuell ist, und obwohl er seine schwulen Bedürfnisse selbst im zugeknöpften Italien der 50er-Jahre mehr oder weniger auszuleben versucht, möchte er nicht so sein, weil er so auch nicht sein darf. So anders, so speziell. Das ist anfangs erst einmal höchstens noch ganz interessant und abwechslungsreich (die erste Zeit zwischen Ripley und Greenleaf erscheint aufregend), doch es verliert schnell seinen Reiz, wenn das gewöhnliche die Oberhand zurückgewinnt. So ist es weniger Ripleys sexuelle Orien- tierung als der relative Umstand, dass sein Anderssein ihn nicht die gesellschaftlich determinierten, die üblich vorgegebenen, eben "normalen" Bahnen einschlagen lassen kann, wegen dessen sich der junge Mann zunehmend in sich selbst zu verlieren scheint und einer tiefen psychischen wie auch physischen Krise verfällt. "The Talented Mr. Ripley" arbeitet leitmotivisch mit schwulen Konnotationen, das durchzieht Ausstattung, Kostüme und Make-Up, Bewegungen, Blicke und vor allem Dialoge, die kaum stärker einer Ambiguität unterstehen könnten. Doch es ist fortlaufend nicht die reine Benennung homosexueller Sujets, die einfache Feststellung, dass Ripley (Matt Damon), Greenleaf (Jude Law) oder Miles (Philip Seymour Hoffman) eindeutig sexuellen Spannungen ausgesetzt oder eben ganz einfach schwule Figuren sind. Der Film widmet sich stärker dem Umgang mit Homosexualität, dem fehlenden und sich entwickelnden Bewusstsein dafür, ihrer isolierenden Bedeu- tung und ihrer Folgen.
Und Ripley als literarische, in Minghellas Version allerdings wesentlich vertiefte und mit der Leidenschaft nicht für Malerei, sondern Musik ("To me, jazz is noise. Insolent noise.") auch veränderte Figur hat mit ihrem Schwulsein insoweit zu kämpfen, als sie sich unverstanden, halt- und als ganzes auch sinnlos fühlt. Ihre totale Assimilation ist deshalb ein Zwang, der aus einer selbstzweiflerischen und hasserfüllten Eigenaversion resultiert. Das Doppelgängermotiv verlässt somit vollends die übliche Thrillertradition, nach der Neid und Habgier die Motivation der Figuren antreiben und wird in einen psychosexuellen Kontext eingebunden. Die Tragik dieser verzweifelten und zerstörerischen Figur liegt darin, dass sie sich ihrer sexuellen Identität (naturgemäß) trotz Flucht und Anpassung nicht entziehen kann. Matt Damon dabei zuzusehen, wie er sowohl das tötet, was er liebt, als auch alles Immaterielle seines eigenen Ichs auszulöschen versucht, gehört zu den beunruhigendsten Filmmomenten des letzten Jahrzehnts. Und wenn sich in der Schlusseinstellung symbolisch die Türen (des Closets) schließen, dann droht Ripley nicht nur auf ewig ein Opfer seiner selbst zu bleiben, sondern wird auch der Zuschauer endgültig dem finstren Raum überlassen.