Irgendwo in einer verschneiten finnischen Landschaft lebt das junge Mädchen Hanna (Saoirse Ronan) mit ihrem Vater Erik (Eric Bana). Sie heizen die Waldhütte mit Holz und ernähren sich von erlegtem Wild, wenn Erik seine Tochter nicht gerade in verschiedenen Sprachen unterrichtet, bildet er sie zur mörderischen Nahkämpferin aus. Eines Tages kommt der Moment, an dem Hanna wissen möchte, warum sie und ihr Vater so leben und was denn eigentlich mit ihrer Mutter geschehen sei. Darauf hatte der ehemalige CIA-Agent Erik sie und sich selbst lange vorbereitet. Auf einer unausweichlichen Mission quer durch Europa muss sich Hanna gegen die gefährliche Geheimdienstlerin Marissa (Cate Blanchett) und deren eigenwillige Killerbande zur Wehr setzen, während sie neue Erfahrungen in einer ihr vollkommen unbekannten Welt macht.
Es ist unmöglich, Joe Wrights "Hanna" angemessen zu vermarkten. Die Trailer suggerieren einen herkömmlichen Actionthriller im Luc-Besson-Chic, die Poster suchen eine gewisse ästhetische Nähe zu Hit-Girl aus "Kick-Ass". Dem Verleih kann man es nicht verübeln, er muss die amerikanisch-britisch-deutsche Koproduktion irgendwie ans Mainstream-Publikum tragen. Gerade das wird ihm andererseits nicht gelingen, weil "Hanna" ein durch und durch europäischer Film ist, zudem mit aller Eigenart, und weil er Genre vorgibt, ohne jemals Genreerwartungen erfüllen zu können. Wenn überhaupt, ist Wrights vierte Regiearbeit ein archetypisches Kindermärchen, erzählt mit der Unerbittlichkeit einer Geschichte des 21. Jahrhunderts.
Hanna zieht aus, um die Welt zu entdecken. Sie verlässt die Märchenhütte im verschneiten Nirgendwo, um sich auf eine traumähnliche Reise voller Gefahren und Unwirtlichkeiten zu begeben. Ihr Kampf gegen skrupellose Agenten markiert einen entscheidenden Übergangsritus in ihrem Leben, am Ende muss sie sich der bösen Hexe stellen, um zu einer Identität zu finden. Wright erzählt "Hanna" als Initiationsabenteuer eines Teenagers und als Geschichte der Zivilisation, vom anfänglichen Leben in steinzeitlichen Verhältnissen bis hin zur Plattenbausiedlung in Berlin. Zuletzt begegnet das Märchen seiner eigenen Illusion: In den vermoderten Überresten des Spreeparks im Plänterwald landet die böse Hexe im Wolfsmaul einer Wildwasserbahn!
Dies ist einer der verrücktesten Schlussakte der jüngeren Filmgeschichte. Konventionsloses Kino, das einen immer da hinführt, wo man es am Wenigsten erwartet. Joe Wright, zwischen gepflegter Jane-Austen-Adaption und bekömmlichem Oscarmaterial bisher nur schwer als Autorentalent zu fassen, empfiehlt sich schlagartig als einer der aufregendsten europäischen Regisseure der Gegenwart. Sein visueller Stil ist einer der aktuell außergewöhnlichsten im englischsprachigen Mainstream-Film, seine formale Experimentierfreude ein Hochgenuss für Freunde unprätentiöser Ultrakunst. Dass "Hanna" es vermutlich schwer haben wird ein Publikum zu finden, unterstreicht nur seine Einzigartigkeit. Laut Wright ist dieser Film immerhin von Ashbys "Being There", Herzogs "Kaspar Hauser" und Spielbergs "E.T." inspiriert – darauf muss man auch erst einmal kommen.