März 14, 2007

Retro: CABARET (1972)

"Cabaret" ist einer dieser Filme, die man eigentlich gar nicht wirklich begreift. Liegt es an seiner zeitlosen, ganz eigenen und wunderbaren Schönheit und Ausstrahlung? An der herzlichen Geborgenheit, der lebensbejahenden Botschaft und Leichtigkeit, die er vermittelt? Oder handelt es sich ganz einfach nur um ein Film-Musical, das von scheinbar grenzenlosem Positivismus geprägt ist? Basierend auf dem Broadway-Erfolg adaptiert Bob Fosse die leicht veränderte Geschichte des Oxfordstudenten Brian Roberts (Michael York), der Anfang der 30er Jahre vor dem Hintergrund der drohenden Machtergreifung durch die Nationalsozialisten nach Berlin reist.

Willkommen!

Dort trifft er in einer kleinen Pension die schrille US- amerikanische Sängerin und Tänzerin Sally Bowles (Liza Minnelli), die jede Nacht auf der Bühne des legendären "Kit-Kat"-Clubs steht und mit ihrer schillernden Performance schnell das Herz des jungen Englischlehrers gewinnt. Doch die quirlige Sally hat noch weitere Verehrer, darunter den jüdischen Baron Maximilian von Heune (Helmut Griem), der allerdings ebenso auch an dem schüchternen Brian interessiert ist. Die anfangs vergnügliche Ménage à trois ist nicht von Dauer – und die immer stärkeren politischen Veränderungen fordern radikale Entscheidungen.

Mein Herr / Two Ladies

Was man heutzutage ganz schlicht mit ‚queer’ abkürzt, nämlich all das, was sich von normativen Konventionen ablöst, rückt bei "Cabaret" in den Mittelpunkt. Doch wo der sexuell Abtrünnige selbst noch im Kino der anfänglichen 70er-Jahre entweder einem der Lächerlichkeit preisgegebenen oder aber isolierten und zum Scheitern verurteilten Typus entsprach, da erhebt Fosses mit 8 Oscars prämierter Film das Anderssein zu einer genussvollen Lebensart. Der Autor Armistead Maupin bringt das in der Dokumentation "The Celluloid Closet" ganz lakonisch auf den Punkt: "Es war der erste Film, der Homosexualität geradezu feierte".

Maybe This Time / Sitting Pretty

Und das bedeutet ganz schlicht, dass die Helden sich keinen Regeln verschreiben und dafür einmal nicht abgestraft werden – anders zu sein erscheint nun auch im Kino nicht mehr als Benachteiligung. Im Gegenteil: ‚Life is a Cabaret’ lautet das Motto! "You have to understand the way I am, mein Herr!", so einfach flüstert es die hinreizende und leicht androgyne Minelli mit verführerischer Stimme in die Kamera. Spätestens dann, wenn die Tochter der Hollywoodlegenden Judy Garland und Vincente Minnelli das erste Mal die Bühne des kleinen Cabarets betritt und die Musicalnummern mit schier unglaublichen Choreographien zu leben beginnen, wird sich niemand mehr dem Bann dieses Films entziehen können.

Tiller Girls / Money, Money

Die Musicalsequenzen in "Cabaret" bleiben durchgängig in ihrem Bühnenshow-Kontext und werden durch eine reine Spielfilmhandlung vernetzt. Es wird ausschließlich nur dort gesungen und getanzt, wo auch die Musik spielt. Das macht Fosse ungemein geschickt, erhält das Musical dadurch doch einen ungewöhnlich filmischen Charakter und wirkt beinahe wie ein Konsens: Genrefans werden ebenso befriedigt wie ein Publikum, das sich mit Film-Musicals tendenziell eher schwer tut. Doch insbesondere durch ihre Zäsurwirkung sind die Songs nicht einem etwaigen Selbstzweck verpflichtet. Denn Komponist John Kander und Liedtexter Fred Ebb verleihen ihnen eine kommentierende Funktion – sie treiben die Geschichte voran.

Heiraten / If You Could See Her

Mehr noch: Sie reflektieren eine tiefere Ebene, die sich unter der pompösen Lebenslust verbirgt und die Ängste der Figuren ebenso wie die gesellschaftlich-politisch Schattenseiten widerspiegelt ("So once I was rich / And now all my fortune is gone / If I've lived through all that / Fifty marks doesn't mean a lot."). Die herausragend in Szene gesetzten Musicaleinlagen sind somit Ausdruck einer wilden, kostümierten Feier, die sinnbildlich für das unbeschwerte und bunte Lebensgefühl der Protagonisten steht, aber aufgrund der doppelbödigen Texte auch eines Zustands voller Zukunftszweifel und einem deutlichen Bewusstsein für die gegenwärtigen Veränderungen des Landes.

Tomorrow Belongs To Me / Cabaret

"Cabaret" ist deshalb nicht nur ein Film über das Ende der goldenen 20er, wo das feierliche Nachtleben noch einmal seine letzten glanzvollen Züge genießt, sondern auch über den Aufstieg des Faschismus in Deutschland. In nur wenigen Momenten und kleinen Szenen wird der Schrecken der Nazis verfremdet angedeutet, aber sein Schleier belegt den gesamten Film. Insbesondere die symbolträchtige Gesangs- einlage auf einem bayerischen Fest verdeutlicht das in einer überzogenen, aber dennoch beeindruckenden Weise. Und wieder sind es die Songs, die die Handlung bestimmen und auf eine Metaebene bringen: Hinter all der schrillen Travestie steckt auch ein sehr bitterer Kern.

Am Ende steht der Anfang, wenn Zeremonienmeister Joel Grey das Publikum zum Finale verabschiedet: Durch Glas, sodass es sich verzerrt selbst spiegelt. Das durchblitzende Hakenkreuz auf dem Arm eines klatschenden Mannes bestimmt die letzte Einstellung. Ein befreiender Optimismus und ebenso auch unbehagliches Gefühl bleiben. Das schaffen wirklich nur die allerwenigsten Filme über das Dritte Reich. "Auf Wiedersehen. A Bientôt. Good Night!".

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