Juli 10, 2008

Kino: WALL·E

Out there … there's a world outside of Yonkers: Der Müllzerkleinerungsautomat WALL-E (Abkürzung für Waste Allocation Load Lifter Earth-class) ist der letzte noch funktionstüchtige Roboter auf der menschen- und lebe- wesenleeren Erde. Die Tagesabläufe von WALL-E sind dabei sorgfältig strukturiert: Mal fährt er durch die verlassene Stadt auf der Suche nach Ersatzteilen, mal schaut er wieder sein Lieblingsvideo "Hello, Dolly!" – und mal geht er auch seiner Aufgabe nach, Müll zu pressen. Doch wird der einsame Alltag des kleinen Roboters plötzlich auf den Kopf gestellt, als ein gigantisches Raumschiff landet, aus dem ein fliegender Suchdroid steigt. Schnell versucht WALL-E, die unbekannte Roboterdame namens Eve für sich zu begeistern – und verliebt sich schließlich in sie. Doch Eve hat einen höher gestellten Auftrag, für den sie auf die Erde gekommen ist – there's a slick town, Barnaby … out there.

Und so erlebt WALL-E, der kleine Roboter, ein großes aufregendes Abenteuer, während "WALL-E", der Film von Andrew Stanton, eine mehr oder weniger überraschende Kehrtwende einschlägt. Nach der knappen ersten Hälfte nämlich droht das Pixar-Abenteuer zur intergalaktischen Sause zu verkommen, die ihrer Exposition, ihrer Figuren- entwicklung und ihrem sorgfältigen Aufbau gegenüber an Charme, Liebe, Witz und Hingabe einbüßt, und die den kleinen WALL-E zwischenzeitlich fast zum Sidekick degradiert, wenn er aus der wesentlichen Action ausgeschlossen und durch andere Figuren ersetzt wird. Der rasante Mittelpart des Films folgt den Konventionen des Animationsfilms bzw. anderer Pixar-Produktionen, deren schnelle Inszenierungen immer von irrwitzigen Verfolgungen, absurden Zufällen und originellen Ideen angetrieben werden. Oder anders: "WALL-E" beginnt schließlich, eine Geschichte zu erzählen, mit Spannung zu arbeiten und die Idee eines Roboters, der nur via Sound als Identifikationsfigur fungieren kann, mit Inhalt auszufüllen. Er bedient eine Dramaturgie, die zuvor keinerlei Rolle gespielt zu haben schien.

Das ist verhältnismäßig wenig aufregend und eigentlich auch noch weniger überraschend, es ist auch etwas zu Bedauern und vielleicht sogar ziemlich schade, und ganz sicher schöpft "WALL-E" sein Potential damit nicht aus. Aber das alles spielt keine Rolle, wirklich nicht. Denn, um es einmal ganz klar zu sagen: Das erste gute Drittel, das alles ist, was "I Am Legend" beispielsweise nicht war, die erste Dreiviertelstunde dieses Films also, ist das schönste, rührseligste und liebenswürdigste, das ergreifendste, aufrichtigste und wahr- haftigste, und das komplexeste, vielschichtigste und schlicht spektakulär unspektakulärste, was der computergesteuerte Animationsfilm je hervorgebracht hat. Man muss diesen kleinen Roboter lieben, man wird gar nicht anders können, weil dieser WALL-E, dieser verschmutzte kleine Müllautomat auf Rädern, eine eindrucksvolle Metapher für das Leben bildet, zutiefst menschliche Eigenschaften verkörpert und überhaupt eine neue Menschlichkeit prophezeit, 700 Jahre in der Zukunft. WALL-E bringt all die Kraft, den Geist und den Willen – sowie freilich das Maß an Oszillation – zusammen für das letzte Bisschen Beweglichkeit auf der Erde, ehe die Starre sie endgültig stillzulegen droht.

"WALL-E" ist dabei ein universeller Film, der eine eigene Kinosprache entwickelt, der sinnästhetisch neues Terrain beschreitet und eine Brücke schlägt zwischen der Methodik und Funktionsart des Stumm- und Tonfilms. Mehr noch bezieht er in diesen Spagat das Musical, welches in gewisser Hinsicht eine zeitlose Mischform repräsentiert, als Träger von Sprache, Austausch und Kommunikation ein: "Hello, Dolly!" dient in "WALL-E" als Kommunikator von Information und Emotion zwischen WALL-E und Eve, aber natürlich auch zwischen WALL-E und dem Publikum – was mit Worten nicht zum Ausdruck gebracht werden kann, übernimmt das Musical (welch Plädoyer!). Und die Sprache eines jahrhundertealten Films auf Video wird zur einzigen Sprache eines volldigitalen Films, der 700 Jahre in der Zukunft spielt. Insofern ist es nicht problematisch, dass der Film später auch sprechende Figuren aufweist und seinen Quasi-Stummfilmansatz aufgibt, weil sein erstes Drittel im wörtlichen Sinne für sich spricht. Dazu hat Ben Burtt, dessen ebenso einfalls- wie einflussreiche Geräusche zu "Star Wars" oder "E.T." ihm zwei Oscars beschert haben, ein höchst ausdifferenziertes Sounddesign entwickelt, das in Verknüpfung mit Thomas Newmans referenzreicher Partitur den Ton zum wichtigsten Erzählorgan von "WALL-E" macht.

Nicht nur dieses Konzept, die John-Williams-Zitate Newmans oder die zum Symbol von Leben und Hoffnung erklärte Pflanze, sondern vor allem der quasi humanistisch-utopische Ansatz Stantons erinnert dabei an die naiv-optimistischen, nicht gerade visionären Genre-Bekundungen Steven Spiel- bergs, arbeitet doch insbesondere die erste Hälfte des Films mit einer offenkundigen "E.T."-Umkehrung, wenn WALL-E daheim auf der Erde zwar nicht unbedingt einsam, aber doch verlassen und allein von Tänzen und Berührungen – so schön wie in "Hello, Dolly!" – träumt ("There's lots of world out there"). Später dann, wenn der Film ihn auf eine abenteuerliche Reise befördert, kann jedoch auch jede Entdeckerfreude nicht die Sehnsucht nach der Heimat tilgen, und so wird aus der Umkehrung doch noch ein Korrelat: "WALL-E" ist vielleicht der "E.T." der Web-2.0-Generation. Ein Film für Kinder, aber auch noch so viel mehr.


90% - erschienen bei: WICKED-VISION