Juli 17, 2008

Retro: GERRY (2002)

Am Anfang ist die Fahrt mit dem Auto. Wir hinterher, mal weit weg, mal nah dran. Meist aber weit weg. Und wir sind ganz allein, barrelling down the road. Immer dem Auto hinterher, immer im Takt von Arvo Pärt. Das ist wie bei Kubrick, wie bei "The Shining". Nur nicht unheilvoll, eher ohne Ziel. So wie eine Reise, schon mitten auf dem Weg, quer durchs weite Land. – Dann: der Schnitt, erst jetzt, auf das Auto. Innen sitzen Gerry und Gerry, ganz in ihrer Sache, kein Wort und kein Schnitt zu viel. – Dann: der Ausstieg. Und der Marsch, der ewig lange Marsch in ewig langen Sequenzen. Gerry und Gerry laufen, laufen und laufen über Stock und über Stein. Und wir immer hinterher oder daneben, immer ganz die anteillosen Beobachter, die stummen Gefolgen. Die auch mal minutenlang aus weiter Ferne warten, wie Gerry #1 von einem Felsen kommt und Gerry #2 ihm ein Sandkissen zum Runterspringen baut.

Einen Grund hat das alles nicht, zumindest keinen formulierten, und aus den wirr-konfusen Sprachfetzen der beiden Gerrys lässt sich auch kein Mehr ableiten, kein Anhaltspunkt für die doch so willkürlich erscheinende Marsch-Odyssee setzen. Doch eine Antwort muss Gus Van Sant nicht einräumen, wenn es ja auch keine Fragen zu stellen gilt, wo "Gerry" mit seiner kühnen Abkehr vom klassischen Erzählen und einer Textur der Übersicht, der Ordnung da beginnt, wo andere eigentlich aufhören: Allen voran der Regisseur selbst, der hier kein mathematisches Kino – berechnet nach Formeln, die "Good Will Hunting" erfolgreich zum liebsam harmonischen Gutmenschendünger knobelten – mehr bedienen, kein Studio mehr zufrieden stellen muss, sondern sich hinaus wagt. "Gerry" ist draußen. "Gerry" ist Bewegung. Ein völliger Verzicht auf Rahmen, Struktur, Räumlichkeit. Der Film ist Reduktion im nicht reduzierbaren Raum. Eine einzige große Ellipse, die sich selbst ausspart. Ein Zurücklassen, Abstreifen, Hinauswachsen. Immer nach vorn, laufen, laufen, laufen.

Vorbild Béla Tarr: "Werckmeister Harmonies" & "Gerry" (Quelle)

Es ist das, was notwendig war, was es zu beweisen galt für Van Sant. Die Rückkehr zum Independentfilm, zur Überschaubar- und Kontrollierbarkeit, zur freien Bewegung. Eine doppelte Initiation: Die eines Regisseurs, der zu sich selbst finden muss. Der einen Teil von sich abgibt. Und die eines Matt Damon, der Casey Affleck liegen lassen muss, um in das Auto von Vater und Sohn steigen zu können. Ein Ritus, ein schweigsamer Kampf gegen das unüberwindbare Selbst, eine Coming-of-Geschichte: Des Alters, vom Erwachsen- werden und vom Reifen – mit jugendlicher Lagerfeuerromantik und Jungenspielchen, mit Verstecken, Suchen, auf Felsen klettern. Der irre Marsch durch die Wüste als Prozess des Verlierens und Findens, als sinnliche Metapher für den Widerspruch der Adoleszenz. Nur ohne Teenager. Nicht mehr wie bei "Mala Noche" oder "My Own Private Idaho", noch nicht wie bei "Elephant" oder "Paranoid Park". Und ebenso eine Coming-of-Geschichte vom Ende der Unschuld, endlich. Nicht mehr dazwischen und nicht mehr im Nirgendwo. "Gerry", auch ein Coming-Out-Film.

Dass die Struktur der Strukturlosigkeit – oder: das Arbeiten gegen die Konvention, gegen die Erwartung – später auch den elegisch-spirituellen Todesmarsch Kurt Cobains begleiten wird, es ist dann leider die Rückkehr zum Casey-Gerry, die Matt-Gerry nicht gut tut. Der universellen Kraft weicht der konkrete Bezug, die Auf- und Erlösung, das Erliegen im Kampf: "Gerry" und "Last Days" – unglückliche Zwillinge – gerrying down the road.


80%