Februar 19, 2008

Berlinale: DRIFTER

Der Dokumentarfilm gewährt einen Einblick in die Drogen- und Stricherszene rund um den Zoologischen Garten. Mit einem kleinen Team begleitet Regisseur Sebastian Heidinger die 16jährige Aileen, ihren Freund Daniel, 25, und Angel, 23 Jahre, bei alltäglichen Situationen wie dem Verkauf von Straßenzeitungen, der Reinigung öffentlicher Toiletten und Prostitution. Alle drei sind drogenabhängig und versuchen immer wieder, vom Leben auf der Straße loszukommen. Der Film zeigt Arztbesuche, Notunterkünfte und das soziale Miteinander der Junkies, ihr Unterkommen in Nischen und Randzonen – auf der Suche nach einer Zukunft.

"Drifter" behandelt ein vielfach aufbereitetes Sujet, das sich nachhaltig vor allem durch Ulrich Edel Filmadaption "Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" festgesetzt haben dürfte. Heidinger nährt sich den Betroffenen mit emotionaler, aber nicht räumlicher Distanz. Er folgt ihnen bis auf die Toilette und zeigt Spritzeninjektionen in der Nahaufnahme, Gespräche über Freier und Erfahrungen mit ihnen aus direkter Perspektive. Der Film verharrt in einem Zustand der Hilflosigkeit, die ihm nur einfaches, unaufdringliches und dennoch nahes Beobachten ermöglicht. Obwohl der Vorwurf der Sozialpornographie auch in der anschließenden Podiumsdiskussion nach der Kinovorführung nicht ausblieb, ist genau dies das deutlichste Zeichen für ein Gefühl des kollektiven Unbehagens, nichts tun zu können. "Drifter" steht vor dem alten Problem des Genres, ein soziales Problemfeld einzufangen, ohne eine ausschließlich starre Begaffung des Elends für ein in warmen Kinositzen eingerichtetes Publikum zu ermöglichen.

Heidinger, der hiermit seinen Abschlussfilm an der Film- und Fernsehakademie Berlin vorstellt, weiß sehr wohl um diese Gefahr. Und weitergedacht ist der Vorwurf auch geradewegs absurd: Die Dokumentation bildet ab, um komplexe Sachverhalte für ein unbeteiligtes, unwissendes Publikum zu transzendieren. "Drifter" nämlich erzählt von Jugendlichen, die einem tagtäglich am Berliner Zoo begegnen, ohne dass man sie wahrnimmt, weil sie nicht verwahrlost, nicht zweifelsfrei als Straßenkinder, Junkies und Stricher erkennbar sind. Der Film untersucht sozusagen eine Grauzone. Dafür bedient er sich mitunter auch der bewussten Inszenierung, dieses Gefühl kann die Dokumentation nicht unterdrücken. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie man sich dem Thema überhaupt dokumentarisch und damit glaubwürdig annehmen kann, ohne das Behandelte mit einer gewissen dramaturgischen Struktur zu versehen. Und so erweist es sich als eigentliche Stärke des Films, auf konventionelle Off-Stimmen und Zwischeninterviews zu verzichten, um stattdessen eher szenisch vorzugehen.

"Drifter" ist natürlich sehr bewegend, die Selbstlosigkeit dieser Jugendlichen, der Hass, den sie gegen sich aufbringen, die Perspektivlosigkeit beunruhigt und macht das Zusehen keinesfalls einfach. In einem anschließenden Foyergespräch, das ich mit dem Regisseur führte (die Berlinale erweist sich nicht zuletzt für diese unmittelbare Kontaktform als Segen), erläuterte er noch einmal sorgfältig und glaubhaft, wie er das Vertrauen der – ja, wie solle man sie eigentlich bezeichnen, wurde gefragt – ‚Protagonisten’ erlangte. Die dreimonatige ‚Kennlernphase’ ohne Kameras merkt man dem Film letztlich an, von der restlichen Vor- und Nachbearbeitungszeit gar nicht zu sprechen. Er habe von Anfang an konkret klargestellt, dass er einen Film mache – und auch, wie er ihn mache. Was manch einer demnach als inszeniert, konstruiert oder gezwungen empfinden mag, ist letztlich nur Ausdruck einer Bereitschaft zur Kooperation, einer vertrauten Hingabe. Wie sehr eine derartige Dokumentation indes von beiderlei Gewinn sein kann, zeigt das Schicksal von Daniel – er hat nach den Dreharbeiten einen Entzug gemacht und ist seit zwei Jahren clean.


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