November 20, 2007

Retro: PECKER (1998)

Das Kino des John Waters ist ein Kino der Menschen. Kaum ein anderer amerikanischer Regisseur der Gegenwart erzählt mit einer derartigen Leidenschaft, mit einer so inbrünstigen Selbstverständlichkeit und offenen Geisteshaltung ganz einfach von Menschen. Man sollte im Falle von "Pecker" widerstehen, den einst für geschmackvolle Eskapaden mit Drag-Queen Divine berüchtigten Underground- regisseur ein weiteres Mal des Seitenwechsels zum Mainstream zu bezichtigen. Mit Verlaub – dann hat man es einfach nicht verstanden.

Waters ist immer Waters geblieben. Und das mit aller Konsequenz. Seine zu skandalträchtigen Zelluloidentglei- sungen ausgestellten Fäkal- und Tiersexszenen aus "Pink Flamingos" werden immer einleitendes Element einer Waters-Filmkritik bleiben, das weiß der Mann selbst – ebenso wie diese Impertinenz seiner früheren Filme heute kaum noch jemanden zu schocken vermag. Aber ein Ausbleiben jener Attitüden, die ihm den recht missverständlichen Ruf eines ‚Pope of Trash’ eingebracht haben, bedeutet nicht, aus Waters’ Post-"Polyester"-Arbeiten eine Anbiederung beim gemäßigten Konsenskino mittelhoch budgierter Produktionen ableiten zu können.

Es ist doch ganz einfach: Von den Einflüssen im Independentbereich gar nicht erst zu sprechen (Christoph Schlingensief oder Todd Solondz beispielsweise), ist das Waters-Erbe nunmehr relativ unüberschaubar. Nahezu jede (post)moderne Komödie bedient sich herben Fäkalhumors, da wird gefurzt, gekackt und in Scheiße gebadet, unentwegt gerülpst, gefickt und mit zahllosen Körperflüssigkeiten hantiert, das alles zu bewussten Geschmacklosigkeiten forciert und mit Blockbuster-tauglichen Einspielergebnissen belohnt. "American Pie" und "Scary Movie", "Jackass" und "Borat", die Farrelly-Brüder und Todd Phillips – absolut undenkbar ohne Waters.

Was einst angewidert aufgenommen und mit NC-17-Ratings abgewiesen wurde, gehört gegenwärtig also fast zum guten Ton. Welchen Sinn würde und könnte es überhaupt ergeben, wenn Waters mit diesem ausgeprägten Groß an Bad Taste-Ergüssen, den Resultaten seines eigenen Schaffens, noch zu konkurrieren versuchen würde. Der Mann hat erreicht, wofür er mit subversivem Geist kämpfte: Das zuvor als pervers deklarierte, abwegige Verhalten all der Outcasts ist gesellschafts-, massen- und publikumskompatibel geworden. Und Waters ist ein überaus bescheidener Kinorevoluzzer – er ruht sich keinesfalls auf seinen Lorbeeren aus, sondern absolviert Cameos in Trashfilmen ("Blood Feast 2: All You Can Eat"), pusht die ‚Nachfahren’ mit über- schwänglicher Kritik ("Another Gay Movie") und – dreht weiterhin Filme.

Deshalb zurück zu den Menschen, um die es bei Waters immer schon ging. "Pecker" ist eine überschaubare Geschichte über einen jungen gleichnamigen Photographen aus – wo sonst – Baltimore, einem niedlich-schläfrigen und immer leicht neben der Spur wirkenden Edward Furlong sozusagen, der alles ablichtet, was ihm vor die Linse gerät. Als sich nach einer kleinen Bilder-Ausstellung im Sandwich-Shop (!) die große Kariere anbahnt, Pecker nämlich wird von einer süßlich-netten, hinreizenden Lili Taylor ("How can you be so kind and gentle and still have talent?") nach New York beordert, kriselt es erst beim Verhältnis mit Christina Ricci ("I beg of you, do not become an asshole, Pecker!") und später dann hängt auch der Haussegen schief ("We're all famous – just like the Jackson family!"). Doch ein Waters-Film wäre indes kein Waters-Film, würden nicht all die Nerds und schrägen Vögel aus katholischen Großmüttern, zucker- abhängigen Kleinkindern, kleptomanischen Freunden, verklemmten Designerhomos, verkleideten Lesben und Spießbürgervätern am Ende eine ausgelassene, im speziellen Sinne durchaus harmonisch-orgiastische Feier veranstalten.

"Pecker" ist eine Liebeserklärung an die Schönheit des Verschrobenen. Zunächst durch den Kamerasucher seines Helden, später auch mit freigelegtem Blick auf all seine Figuren. Es ist eine Kunst, von so derart schrulligen Gestalten zu erzählen, ohne sie jemals zu denunzieren oder vorzuführen. Die religiöse, beständig mit einer Mariastatue Bauchrednerkünste vorführende Großmutter wird genauso liebevoll gezeichnet wie die homophile, in einem Stripclub arbeitende Schwester ("Are you homosexual?""No, I’m not.""You wouldn’t understand then."). Waters liebt sie alle, in ihrer ganzen unangepassten Art, ihren merkwürdigen Eigenheiten. Dass der Film sowohl als Ode ans einfache Kleinstädtische wie auch als Absage an die übersättigte Großstadtkultur scheitert, liegt genau darin begründet: Auf ihre ganz eigene Weise sind ja doch alle Figuren Freaks, warum also nicht einfach gemeinsam die Klamotten vom Leibe reißen und unenthemmt lostanzen. Wie in "Hairspray", "Cry Baby" oder "A Dirty Shame" machen die eigentlich rivalisierenden Parteien (hier: friedvolle Provinzler gegen die New Yorker-Modeszene) letztlich doch gemeinsame Sache, Waters löst alle Konflikte stets in eine große umfassende Lebensbejahung auf.

Natürlich liegt der Film dennoch seinem Handlungsort Baltimore zu Füßen. "Pecker" weist selbst für Waters-Verhältnisse überdurchschnittlich viele Außenaufnahmen auf, am Ende hat man als Zuschauer das Gefühl, jede Straßenecke und jede Abbiegung zu kennen. Auch das ist Teil der – in einem speziellen, nicht herkömmlichen Sinne – familiären Atmosphäre des Films, der eine Welt kreiert, in die man sich nur zu gern hineinbegeben würde, so wunderbar anders, liebevoll und nostalgisch wirkt sie. "Pecker" wirft ganz einfach einen wunderbar poetischen Blick auf Baltimore, dessen Bewohner und ihre kleinen Alltagsabsurditäten.

Selbstverständlich – dies ist ein John Waters-Film – sollte auch dem Lerneffekt Platz eingeräumt werden. Oder weiß der Leser dieser Zeilen etwa, was a) ‚trade’ bedeutet? Sollte dem nicht so sein: Hierbei handelt es sich per genauer Definition um einen Heterosexuellen, der gleichgeschlechtlichem Oral- verkehr nicht abgeneigt ist, allerdings mit der Einschränkung, nicht selbst aktiv zu werden. Etwas weiter gefasst also sind trades Männer, die sich schwulen Sex quasi "gefallen lassen", laut Waters sozusagen Klemmschwestern besonders aus südlichen Regionen, die ihr Mannsbild nicht überwinden können (alte Binsenweisheit: so lange du nicht gefickt wirst, bist du nicht schwul). Auf "Pecker" übertragen meint die Bezeichnung indes lediglich knackige Hetero-Männer, die in einer Homo-Bar tanzen. Was sie dort genau tun, nennt sich im Übrigen b) ‚tea-bagging’ und ist weitaus harmloser als es der Begriff vermuten lässt. Haarige Einsichten der Watersschen Art gibt im c) ‚The Pelt Room’, wo leicht aggressive, aber liebenswürdige Lesben für ein Dutzend alter Säcke strippen – was die örtlichen Baltimore-Bewohner schockiert: "Public hair causes crime.". Nur eine von vielen großartigen Dialogzeilen in "Pecker".

Furlongs Figur ist in mancher Hinsicht sicherlich auch ein Alter Ego Waters’, der mit seinem Buch "Director’s Cut" – dessen wirklicher Sinn sich mir erst nach erneuter Begutachtung des Films erschloss, zuvor fristete es ein armseliges Dasein in meinem Regal – ebenfalls kuriose Photos abbildete: Nichts weiter als von einem Fernsehgerät abgeknipste Bilder von "Peyton Place" bis zu "Written on the Wind" waren darin zu sehen, nicht zu vergessen haufenweise beharrte und gespreizte Hinterteile: "Life isn't anything if you're not obsessed", heißt es im Film. Und schließlich, nachdem Friede,. Freude, Eierkuchen dominiert – und in "Pecker" ist das ausnahmslos positiv zu verstehen – verkündet der Titelheld sein nächstes Anliegen. Was folgt ist eine grässlich abgedroschene Regisseurspose (die Hände zu einem rechteckigen Objektiv formend) und die Drohung, dass nun auch die Welt der bewegten Bilder nicht mehr sicher sein wird. "Cecil B. DeMented" lautet die konkretere Antwort.


85%