Filmmusik hilft in der Regel, das Bild zu komplettieren. Sie unterstreicht und untermalt, rundet auf und ab, verdichtet und verkürzt, oder gibt einem Moment den letzten Schliff, sie trägt und begleitet einen Film, immer auf der Suche nach dem richtigen Ton, der unterstützenden Note. Die ersten düsteren Klänge in "There Will Be Blood" sind schon so klaus- trophobisch, atonal und dissonant, dass sie alles, nur keine epische Wirkung im Sinn haben können. Und viele Minuten werden vergehen, ehe ein erstes Wort sie ablöst: "No!". Doch gebändigt ist sie dadurch nicht. Für weitere zweieinhalb Stunden wird sie sich als eigene Stimme behaupten, die dem Bild beständig widerspricht. Sie kommentiert eigensinnig die Erschaffung einer Welt, ohne sich daran zu beteiligen, ganz so als wüsste sie von Beginn an, dass die Geschichte vom Öl nur in einer Geschichte vom Blut enden kann. Die Musik in diesem Film ist eine eigene, losgelöste Naturgewalt. Eine neben Daniel Day-Lewis und Paul Dano.
"No!". Daniel Plainview liegt verletzt auf dem Boden des Ölgrabens. Die Kräfte haben ihn fast verlassen, doch sein Ehrgeiz ruht nie. Er bezwingt die Gewalt des Erdgesteins, fordert dessen massive Kräfte heraus. Und verneint den Verlust, die Niederlage, das Scheitern gegen eine Macht, der auch er nicht gewachsen ist. Noch nicht. Bald wird der Ozean aus Öl, der unter seinen Füßen lodert, entbrannt sein und an die Oberfläche strömen, sich jenem Mann geschlagen geben, der von so viel Hass und so wenig Empathie angetrieben wird, dass er nur die gewaltige Kraft der Natur als ebenbürtigen Gegenspieler annehmen kann. Daniel-Day Lewis ist Daniel Plainview. Ein unbezwingbares Monstrum, ein wildes Tier zwischen Größenwahn und Fanatismus, ein brodelnder Kessel, jeden Moment bereit zum Überlaufen. Diese Wucht von einem Schauspieler ist ohnegleichen. "There Will Be Blood" gehört Daniel Day-Lewis, das ist sein Film, seine One-Man-Show, seine Bühne.
Day-Lewis interpretiert den Oil-Man als einsamen, asozialen, gesellschaftlich inkompatiblen Despoten, der eine Gefahr vor allem für sich selbst darstellt, als jemanden, der alle Macht an sich gerissen hat, jede Empfindung unter ständiger Anspannung, ständigem Druck ableitet. Dafür hat er sich der Rolle höchst komplex angenährt: Seine Sprache ist ein Englisch vergangener Tage, sie wirkt wie ausgestorben, so unnuanciert, seltsam betont, so kraftvoll, beängstigend, instinktiv. Ja, Day-Lewis hat einen komplett eigenen Sprachduktus entwickelt, angelehnt an John Hustons Figur in "Chinatown" – seine Stimme verändert er soweit, dass sie von einem komplett anderen Schauspieler zu stammen scheint. Das ist kein einfaches Method Acting mehr, kein verbissenes Einleben in eine Figur, das lässt sich nicht mehr in bekannten Formkategorien festhalten. Was Day-Lewis hier unternimmt, ist eine Transformation. Es ist eine schauspielerische Jahrhundertleistung, die einmal zu den größten Performances der Filmgeschichte zählen wird.
Natürlich behandelt "There Will Be Blood" die Entstehung des Kapitalismus’. Das ist der Text, der einem da ganz klar und gut lesbar auf die Leinwand geschrieben wird. P.T. Andersons Film ist eine schlicht allegorische Abbildung kapitalistischer Struktur. Wie sie funktioniert, wie sie tickt, wie sie sich ausbreitet. Wie sie den Beginn der modernen USA markiert. Und die Geschichte ist deshalb so kraftvoll, weil sie eine uramerikanische ist, erzählt aus amerikanischer Sicht, wie eine stolze Vaterlandsfabel, die wahr geworden ist. Dem Aufkommen neuer steht dabei das Festhalten an alten Strukturen gegenüber. Der Film entwirft eine Gegen- sätzlichkeit von Wirtschaft und Politik zu Religion. Die einen organisieren sich industriell und geschäftstüchtig, die anderen predigen in Holzkirchen die dritte Wiederauferstehung und den Willen zur Genügsamkeit. So widersprüchlich Anderson diese beiden Grundsäulen der USA zunächst anlegen mag, bilden sie doch eine Symbiose. Sie bedingen sich gegenseitig, profitieren voneinander und arrangieren sich.
Sie stehen sogar beinahe in einem Abel und Kain-Verhältnis zueinander: Eli Sunday (wahnwitzig, seinem Kontrahenten fast ebenbürtig und schlicht phänomenal gespielt von Paul Dano), als Vertreter der Kirche, als ein selbsternannter Gesandter Gottes, und Daniel Plainview als Geschäftsmann und Inventor, der erst selbst im Dreck wühlt, um später dann wühlen zu lassen – sie verbindet in gewisser Hinsicht ein brüderliches Band. Wenn Neid und Habgier schließlich im Brudermord kulminieren, bleibt dennoch die Frage, wer hier die Oberhand behält: Spielt Plainview nur ein gerissenes Spiel mit Eli, benutzt er ihn für seine Zwecke bis zum letzten Schluss ("I’m finished."), oder ist es doch der Neid auf ein übergeordnetes Ganzes, auf einen Glauben an etwas, das Kraft ohne Zutun schenkt. Ist es doch Eli, der alle Machtzügel in der Hand hält, wenn er Geld für Kirchen kassiert, während sich die Ölbohrer in die Luft sprengen. Dieses Kräftemessen ist ebenso uneindeutig wie verlockend, mindestens so perfide wie undurchsichtig. Und wenn zudem Plainviews vermeintlicher Halbbruder auf der Spielfläche erscheint, wie auch überhaupt noch die Frage nach Elis Zwillingsbruder im Raum steht, dann wird es so richtig schön verschachtelt. Von der Vater-Sohn-Geschichte, die wie so oft bei Anderson eigentlich im Mittelpunkt steht, noch gar nicht zu sprechen.
"There Will Be Blood" lässt sich nicht fassen, eigentlich kann man den Film auch gar nicht wirklich verstehen, zumindest nicht beim ersten Mal. Das ist ein so gewaltiges Mammutwerk, so vieldeutig, chiffriert und ambivalent, so feinsinnig, strukturiert und hochkomplex inszeniert. Das ist die Arbeit eines absoluten Meisters, eines Regisseurs, der im völligen Bewusstsein seiner künstlerischen Fähigkeiten steht. Gleichzeitig erzählt der Film einfach nur eine Geschichte, wirkt simpel in der Narration, zumindest gradlinig und überschaubar, ungemein spannend und unterhaltsam. Das alles erscheint widersprüchlich: Ein gigantisches, über drei Jahrzehnte erstreckendes Amerikaepos, überaus üppig und oppulent in Szene gesetzt, mit einem großen, bedeutsamen und historischen Gehalt. Und gleichzeitig doch ein intimes, beklemmendes, leises Figurenspiel. Aber vielleicht ist "There Will Be Blood" auch einfach nur Kino.