Mai 05, 2009

Kino: BOY A [Push-Up]

Seine Identität ein Schein, seine Vergangenheit ein Geheimnis: Jack (Andrew Garfield) ist 24, als er nach jahrelangen Aufenthalten in Verwahrungsanstalten ein neues Leben beginnt. Mit neuem Namen, solidem Job und bald auch der ersten Freundin gelingt ihm ein Neuanfang. Doch die Erinnerungen lassen Jack nicht los – Gedanken an die schreckliche Tat, für die er als Kind verurteilt wurde und die Schuld, die auf ihm lastet, kann ihm auch sein Sozialbetreuer (Peter Mullan) nicht nehmen. Der Druck auf den jungen Mann, der immer unerkannt bleiben muss, verstärkt sich noch, als die Wahrheit durch einen Zwischenfall ans Licht zu kommen droht.

Im Wettbewerb der Berlinale 2008 platziert hätte John Crowleys "Boy A" sicher für deutlich mehr Aufmerksamkeit gesorgt. Die englische Fernsehproduktion des Channel 4-Kanals wurde allerdings bereits im Vorjahr in Toronto entdeckt und durch die Weinstein-Brüder fürs Kino aufgewertet. Die Geschichte wird parallel montiert erzählt: Rückblicke in die Vergangenheit des Protagonisten wechseln sich mit dessen gegenwärtigen Versuchen ab, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. Auf der Flucht vor der Vergangenheit und damit auch vor sich selbst, gestaltet sich die Lage für Jack überaus schwierig. Denn die neue Existenz bietet ihm zwar die Möglichkeit, mit dem Vorfall aus Kinderjahren abzuschließen, ihn zu vergessen, vielleicht sogar ungeschehen zu machen, gleichzeitig sind die sozialen Herausforderungen indes hoch gestellt – weder Kontakt zur Familie, noch zu alten Bekannten ist möglich.

Andrew Garfield, zuletzt neben Robert Redford in "Lions for Lambs" zu sehen, spielt den verschüchterten, unsicheren ‚Boy A’ – unter diesem Pseudonym geistert er im Film durch die Presse – mit einer erschreckenden Brillanz zwischen Hilfsbedürftigkeit und sublimem Wahnsinn. Der junge Schauspieler trifft nahezu jeden Ton, seine Darstellung ist derart auf den Punkt gebracht, dass sie selbst die Leistung des gestandenen, ebenfalls großartigen Peter Mullan überschattet. Seine Figur fungiert dann auch mehr als Katalysator. Zum einen ist sie die einzige Bezugsperson für Jack, sein Antrieb und Motor, sein Vertrauter, sein Freund. Da die Titelfigur jedoch ein Geheimnis mit sich trägt, dass der Zuschauer zwar erahnen, sich letztlich aber doch nur grob ausmalen muss, ist der Sozialbetreuer ebenso ein solider Anhaltspunkt, jemand, der berechenbarer ist in einem sonst verlässlich unberechenbaren Drama, das nie den einfachen Weg sucht.

Trotz des enormen Spannungsverhältnisses, das sich daraus ergibt, bleibt der Film konzentriert und ernsthaft, ohne leichtfertig Sympathien zu verteilen. Damit nähert sich "Boy A" dem Problem von delinquenten Kindern und Jugendlichen auf eine ungemütliche, herausfordernde Art. Er stellt schwierige moralische Fragen, ohne sich selbst jemals selbst moralinsauer zu Wort zu melden. Lediglich die ungeschickte, weil plumpe Entscheidung, der Figur eine versöhnliche Katharsis zuzugestehen, indem sie einem kleinen Mädchen das Leben rettet – symbolhaft eng verbunden mit der Tat, die sein Trauma bildet – ist ein wenig zu bedauern. Hier knickt die Glaubwürdigkeit des Films zeitweise ein und erlaubt dem Antihelden jene erlösende Freimachung von der Schuld, die sich jeder in einer ähnlichen Verfassung wünscht – und deren Streben nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit den dezent allegorischen Charakter des Films umschreibt.


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