September 08, 2007

Kino: HAIRSPRAY

Es gibt in "Hairspray" eine Montage, bei der das Mädchen im Mittelpunkt, Tracy Turnblad, gelangweilt eine Unterrichts- stunde nach der anderen durchsteht, von Algebra bis Biologie – immer wandert der Blick ungeduldig auf die große Uhr. Das Ticken wird mit einer rhythmischen Percussion-Abfolge unterstrichen, während ein abgehackter Bass das endlose Warten vorantreibt. Diese Vertonung von Bildern, das Einbetten der Sounds in eine Ereigniskette, ist geradezu prädestiniert für Filmmusicals und demonstriert schon nach nur wenigen Augenblicken, wie Adam Shankmans Inszenierung sich ganz auf den klassischen Stil des Genres festlegt. Seine Adaption des Broadway-Erfolges nach John Waters’ kongenialem Tanzfilm beweist nicht weniger, als dass Musicals die reinste, die purste Form des Kinos sind: Bewegungen, Rhythmen, Schnitt – all das verschmelzt zu einer Einheit, einer Technik und Grundsätzlichkeit, die Film überhaupt erst ermöglicht.

Die meisten Regisseure scheitern deshalb an dieser Aufgabe, zu komplex die Choreographien, zu anspruchsvoll die Anschlüsse, und zu schwierig die Synchronisationen der Bewegungen. In vielfacher Hinsicht beschwört "Hairspray" die Ära des Vergangenen herauf. Formal erinnert manches an die MGM-Musicals der 40er und 50er-Jahre, die wunderbaren Studiodekors etwa oder die farbenfrohen Kostüme. In einer Szene tanzen Christopher Walken und John Travolta auf einem kleinen Hinterhof zwischen Wäscheleinen – ein noch ikonischeres Flair könnte man gar nicht erschaffen. Und dann natürlich inhaltlich, im Baltimore der frühen 60er, wo verzweifelte Hausmütter und Ehemänner als gestrige Statussymbole ihre Kinder längst nicht mehr in die Kirche bewegen, sondern bestenfalls vom Fernsehgerät fernhalten können. 1962, im selben Jahr, als sich erstmals ein afroamerikanischer Student in der Universität von Oxford eingeschrieben hatte, sollten auch die nachmittäglichen TV-Tanzshows nicht mehr nur swingende Teenager in schwarz und weiß aufspalten.

"Nice white kids who like to lead the way
And once a month we have our ‘negro day!’"

Trotz der Elternproteste tanzte in Waters’ Original wie auch dem Musical zum Ende ein jeder gemeinsam, ob weiß oder schwarz, dick oder dünn, jung oder alt. Auch wenn die Realität indes anders aussah, da den Sittenwächtern die Absetzung der ‚Buddy Deane Show’ gelang, nachdem sie ihren ‚Negro-Day’ überwunden hatte und die Sendung stattdessen sowohl mit farbigen als auch weißen Jugendlichen ausstrahlte. Wirklich subversiv war das womöglich selbst 1988 nicht mehr, auch wenn Waters’ schräg-schrullige Parodie ganz generell als Ode an die Außenseiter für Toleranz in, wenn nicht mehr rassistischen, dann doch zumindest homophoben Verhältnissen warb. Da darf das Vergnügen rund 20 Jahre später guten Gewissens vor den ernst gemeinten Appell treten – die Themen im 2007er "Hairspray" sind weitgehend überholt und dürfen darum mit noch ausgelassener Ironie behandelt werden. Mehr nämlich als Waters, der sein Verständnis von Gleichberechtigung simpel wie auch originell dadurch zum Ausdruck brachte, dass er in einer Seitengasse einen schwarzen Jungen heftig mit einer konservativ erzogenen Weißen knutschen ließ, während über die zarten Füße dreckige Ratten krochen, werden hier gleich ganze Straßenzüge mit Queen Latifah als Kerzen haltende Rudelführerin aufgefahren, um die Rassentrennung zu überwinden.

"And i'm the man who keeps it spinnin' round
Mr. Corny Collins with the latest, greatest
Baltimore sound!!"

Die Ecken und Kanten aus Waters’ Version des Stoffes wurden auch sonst ausradiert, hier wird die Sexualität der Kinder nicht durch Elektroschocks zu unterdrücken versucht, finden sich keine Kotzszenarien oder zu gekokste Pia Zadoras in urigen Bruchbuden wieder. Und auch echte Transvestiten gibt es keine mehr: In die mächtigen Schuhe von Divine tritt nun Travolta, seinerzeit der Musicalstar einer ganzen Kinogeneration. So amüsant seine Auftritte als übergewichtige Mutter auch sind, seine Edna Turnblad bleibt letztlich eine Witznummer, die nur deshalb Spaß macht, weil ein Mann nach langer Prozedur wie eine komische Frau aussieht. Das kann manchem Divine-Vereherer zu Recht übel aufstoßen, auch wenn Travoltas Tanzeinlagen nur bestätigen, wie sehr dieses Genre ihn vermisst hat. Schwingt er im sensationellen Finale aber erst einmal die dicken Tanzbeine, ist das etwas beschädigte Erbe fast schon wieder vergessen.

"So every afternoon, drop everything
Who needs to read and write when you can dance and sing?"

Überhaupt ist die Besetzung der größte Coup des Films. Nach längerer Leinwandabstinenz begeistert Michelle Pfeiffer als intrigante, narzisstische Hexe mit hemmungslosem Over-Acting, rauchig-kratziger Stimme und erstaunlichem Gesangstalent, das an ihre hinreißende Performance aus "The Fabulous Baker Boys" erinnert. Ihr gegenüber darf Christopher Walken abermals sein Talent für Musicals unter Beweis stellen, immerhin weiß man nicht erst seit seinem tänzelnden Auftritt im Fatboy Slim-Video "Weapon of Choice" um dessen Gespür für elegante Bewegungen. Walken und Pfeiffer ist überdies eine urkomische Szene in einem Scherzartikelgeschäft vergönnt, die ob der ungeheuren Chemie zwischen beiden an ihre gemeinsamen Auftritte in Tim Burtons "Batman Returns" erinnert. Die Entdeckung in "Hairspray" jedoch ist zweifellos Debütantin Nikki Blonsky als pummelige Tracy, ebenso wie Ricki Lake bis dato komplett unbekannt. Sie schultert den Film mit enormer Souveränität, tanzt und singt als gäbe es kein Morgen mehr, mit einer Präsenz und Ausstrahlung, die viel zur lebendigen, ansteckenden Atmosphäre des Films beiträgt. Zuletzt spannen hübsche Gastauftritte von Waters, Lake und Jerry Stiller den Bogen zum Original.

Shankmans Leinwandadaption also ist die Musicalüber- raschung des Jahres, auch wenn er weniger bissig und verdorben, anstößig und zersetzend erscheint als seine Inspirationsquelle. Die mitreißenden Songs aus der Feder von Scott Wittman und Marc Shaiman, das überdrehte, spielfreudige Ensemble, all die bunten und ausgelassenen Kostüme bis hin zu den ausgedehnten, enorm peppigen Gesangs- und Tanzeinlagen stehen für sich – "Hairspray" hat seine Bühne wieder gefunden: Großes Kino als geschlossener Kreis.


85%