Oktober 21, 2009

Kino: ORPHAN

Wenn sich Kinder im Horrorfilm plötzlich aus ihrer Unschuld lösen und zu unberechenbaren mörderischen Individuen verselbständigen, zählt das noch immer zu den unheimlichsten Tabus eines Genres, das eigentlich keine Tabus zu kennen vorgibt. Seit jeher war die Wendung der Engelsgesichter gegen ihre elterlichen Beschützer eine schöne Entfremdungs- metapher für gewaltsames Erwachsenwerden und den Bruch familiärer Konventionen.

Die sichere und schützende Selbstverständlichkeit unschuldiger Kinder wurde deshalb insbesondere im Kontext des sonst instabile Verhältnisse produzierenden Horrorgenres mehr bemüht als gebrochen – Kinder wurden zumeist als Instanz der Hoffnung, nicht Quelle des Bösen begriffen. Umso nachhaltiger wirkten die berüchtigtsten unter ihnen, die das Klischee braver Kinder gegen sich selbst wendeten: "Böse Saat" (1955), "Das Dorf der Verdammten" (1960) oder "Das Schloss des Schreckens" (1961) demonstrierten eindrücklich den Verlust heimeliger Sicherheit und erklärten Kinder zu Vorboten des Schreckens oder seinen unheimlichen Vermittlern.

Interessant dabei ist, dass sie in dieser Umkehrung, und sei sie noch so radikal, selten bis gar nicht auch zum Auslöser jenes Schreckens erklärt wurden – George Romero legitimierte die Mordlust der kleinen Monster in "Die Nacht der lebenden Toten" (1968) und "Dawn of the Dead" (1978) durch den Befall eines Zombievirus, und in den modernen Klassikern des Subgenres, "Der Exorzist" (1973) oder "Das Omen" (1976), fungieren Kinder mehr als Veräußerlichung eines Horrors, der teuflischen Ursprungs ist: Der Satan höchstpersönlich hat sich lediglich ihrer Körper bemächtigt.

"Orphan – Das Waisenkind" folgt dieser Tradition, wenn auch mit anderen Vorzeichen, hinter verdeckter Hand oder mithilfe eines überraschenden Schlusstwists. Es ist jedoch zunächst ein Film, der seine Verwandtschaft zum Phantastischen negiert und stattdessen eher die Nähe zum Psychothriller sucht. Dramaturgisch orientiert sich Jaume Collet-Serras zweiter Genrefilm nach seinem jüngsten "House of Wax"-Remake nämlich stark an den herkömmlichen Strukturen des Familienthrillers der späten 80er und frühen 90er Jahre, an Filmen wie "Eine verhängnisvolle Affäre" oder "Die Hand an der Wiege".

Auf entsprechend leisen Sohlen schleicht sich demnach das Grauen in die Familie der zweifachen Mutter Kate Coleman (Vera Farmiga). Nachdem sie eine Fehlgeburt während der Schwangerschaft mit ihrem dritten Kind erlitten hat, entscheiden sie und ihr Mann John (Peter Sarsgaard) sich zur Adoption der kleinen Esther (Isabelle Fuhrman), eines schüchternen, intelligenten Mädchens aus Russland. Das neue Familienglück währt jedoch nur kurz: Seltsame Vorfälle ereignen sich im Umfeld des Kindes, während Kates allmähliche Zweifel in ihrer Familie kein Gehör finden. Stück für Stück spielt der Film die blutigen Rachegelüste Esthers gegen die vermeintliche Paranoia ihrer Stiefmutter aus – bis zum schockierenden Ende.

Genüsslich tritt "Orphan" die Klischees des Genres breit, verteilt eindeutige Identifikationsangebote und manipuliert seine Handlung für durchsichtige Spannungsmomente: Hysterische Mutter vs. ungläubigem Ehemann, ein braves Adoptivkind, das selbst noch den offensichtlichsten Mord makellos zu vertuschen versteht und eine dramaturgische Schraube, die sich erst dann löst, wenn das Grauen nicht mehr aufzuhalten ist. Es sind die unverzichtbaren Zutaten aus der Mottenkiste: Doch lange hat sie kein Film mehr so clever bemüht, lange nicht mehr so effektiv für sich zu nutzen gewusst. Die Erzähllethargie und der Einsatz altmodischer Regieeinfälle wirken nun geradezu erfrischend in Zeiten ständiger Neuauflagen oder Remakes vom Fließband.

Nicht zuletzt, weil "Orphan" durch den Rückzug ins Private seinen Horror an einem Ort ansetzt, den viele Genrefilme schon längst wieder verlassen haben, den heimischen Bereich also, generiert er geerdeten, nachvollziehbaren Grusel – umso beklemmender die behutsame, stetig steigende Spannung, und umso schockierender die Kompromisslosigkeit seiner Attacken gegen die familiäre Keimzelle, die er drastisch und originell zu visualisieren versteht.

Dass er sich damit auch wieder auf die ideologischen Grundfeste des Genres stützt und die Familie als jeden Schrecken bewältigende Kraft ausweist, ist da nur selbstverständlich: Es ist ein im Kern reaktionäres Genre, das entsprechend gefüttert werden will. "Orphan" ist immerhin sehr ambitioniert darin, die Schwachstellen einer solchen Familie – eine furchtbare Fehlgeburt, die Alkoholsucht der Frau, das Fremdgehen des liebevollen Ehemannes – besonders auszuschmücken, damit es intrigante kleine Biester wie Esther auch umso einfacher haben, in sie einzudringen: Ja, ein wunderbarer Film.


70% - erschienen bei: gamona