Es ist der Alptraum einer jeden Mutter: Als Christine Collins eines Tages von der Arbeit nach Hause zurückkehrt, ist ihr neunjähriger Sohn Walter spurlos verschwunden. Monatelang ist die Polizei von Los Angeles auf der Suche nach dem Jungen, ehe Christine eines Tages die erlösende Nachricht erhält - ihr Sohn wurde unversehrt gefunden. Sie könne ihn am Bahnhof abholen, Presse und Polizei würden den Fahndungserfolg gebührend feiern. Doch nun erst beginnt der eigentliche Leidensweg der hilflosen Mutter.
Denn der Junge ist nicht der gesuchte Sohn, sondern ein von den Behörden instrumentalisiertes Kind, das nur behauptet Walter zu sein. Ehe sich Christine versieht, befindet sie sich inmitten einer handfesten Verschwörung machtgieriger Lokal- politiker und des korrupten LAPD. Als sie sich der Presse zuwenden und die Suche nach ihrem wirklichen Sohn weiter vorantreiben möchte, wird sie für unzurechnungsfähig erklärt und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Einzig der beliebte Radioprediger Gustav Briegleb schlägt sich auf ihre Seite im Kampf gegen die staatliche Gewalt.
Bis hierhin ein Konglomerat aus Familienmelodram und Thriller, wird die Geschichte in der zweiten Hälfte schließlich noch durch einen mit Horrorelementen angereicherten Handlungs- strang ergänzt. Vom Mutter-Sohn-Drama zum Serienkillerfilm und Gerichts-Thriller, erzählt Eastwood dann alles auf einmal. Doch die Stofffülle ist bei ihm stets logisch angeordnet - fast organisch entwickeln sich die einzelnen Plot-Teile in- und auseinander.
In erster Linie ist "Der fremde Sohn" aber natürlich ein sorgfältiges Period Piece. Der auf einem aktenkundigen Kriminalfall von 1928 basierende Film ist als faktische Nachstellung konzipiert, bei der Eastwood erstaunlich nüchtern und unsentimental im Recherchestil eine nahezu unglaubliche Geschichte bebildert. So unglaublich gar, dass sie in Filmform nicht selten konstruiert erscheint, und es deshalb eines starken Erzählers bedarf, um sie in zweieinhalb Stunden glaubwürdig auf die Leinwand zu bringen.
Eastwood hat sich mehrfach als solcher bewährt. Seine Inszenierungen sind formal stilisiert, aber dennoch schmucklos und minimalistisch vorgetragen, sein Casting stets überlegt und seine Geschichten immer von einer deutlich moralischen Haltung gekennzeichnet. Spätestens seit "Erbarmungslos" ist Eastwoods konventionelles und ebenso konservatives Erzähl- kino auch das Kino einer unerbittlichen Selbstreflexion: Das anfängliche Misstrauen, das dieser Film beispielsweise rechtsstaatlichen Prinzipien entgegenbringt, schlägt nicht in Dirty-Harry-Polemik um, wird gleichzeitig aber auch nie für liberale Bekenntnisse zerstreut.
In gewisser Hinsicht ist "Der fremde Sohn" natürlich durchaus eine sehr altertümliche Geschichte über die Korrumpierbarkeit staatlicher Systeme und die vermeintliche Notwendigkeit von Selbstjustiz. John Malkovich darf hier sogar den geistlichen Erretter und damit Vertreter einer über alle Widerstände der Ordnung triumphierenden Kirche geben. Doch sind das selbstverständlich (auch) Zugeständnisse an die zeitliche Verortung des Films während der Großen Depression und seiner Nähe zur wahren Beschaffenheit des Stoffes.
So klassisch Eastwood inszeniert, und so fremdkörperartig sich seine Filme dementsprechend im heutigen Kinogeschehen anfühlen, so sehr ist er mittlerweile auch daran interessiert, nicht die ideologischen Muster seiner Generation nachzu- zeichnen. "Der fremde Sohn" erscheint somit als melo- dramatisches Stimmungsbild von Los Angeles irgendwo zwischen "Chinatown" und "L.A. Confidential", das Fragen nach Machtmissbrauch jedweder Art und zuletzt selbst dem Sinn der Todesstrafe verhandelt - mit einer fast übermodernen, für ihre Bürgerrechte kämpfenden Frauenfigur im Zentrum.
Angelina Jolie gibt sich in permanenten Close-Ups viel Mühe, den Erwartungen ihres Regisseurs gerecht zu werden. Mit starkem Ausdruck, prägnantem Make-Up und stilvoller Kostümierung schlüpft sie in die Rolle einer klassischen Hollywood-Diva und schultert den thematisch ja durchaus ein wenig überfrachteten Film mit Bravour: Selbst die aufge- setzten Szenen in der Psychiatrie - hier denkt man natürlich an Jolies Oscar-Part in "Durchgeknallt" - wirken dank ihres konzentrierten Spiels weniger klischeehaft, als sie es eigentlich müssten.
Was als fast banale zeitgenössische Familiengeschichte beginnt, beansprucht mit zunehmender Laufzeit immer mehr Größe für sich. Eastwood hat viel zu erzählen und will es auch erzählen: Elegant und mit sicherer Hand bringt er verschiedene Handlungsstränge, moralische Fragen und Genreelemente zusammen. "Der fremde Sohn" ist packend, spannend und bewegend, aber in letzter Konsequenz doch ein wenig zu überambitioniert, um an Eastwoods jüngste Meisterwerke heranreichen zu können.