November 06, 2007

Kino: AUF DER ANDEREN SEITE

"Es gibt zwei Sorten von Filmschaffenden: Es gibt die, die sich immer wieder neu ausprobieren und neu erfinden. Dann gibt es andere Filmemacher, die irgendwann stehen geblieben sind, weil sie gemerkt haben: Das ist jetzt erfolgreich, das ist meine Marke, das ist meine Handschrift, das ist mein Stil, das gibt mir Sicherheit, und ich halte daran fest, bis der Zuschauer sich beim zweiten oder dritten Film langweilt. Und ich will weder den Zuschauer, noch mich selbst langweilen, sondern würde halt auch gerne so viel wie möglich über Film lernen." (Regisseur Fatih Akin, in: tip 20/07).

Yeters Tod

Ein türkischstämmiger Mann läuft durch die Straßen Bremens. Er kommt an einem Bordell vorbei und hört eine Prostituierte in seiner Landessprache reden, dann nimmt er ihre Dienste in Anspruch. Kurze Zeit später bietet er der Frau schließlich an, sie ausreichend zu bezahlen, falls sie bei ihm leben, das Gewerbe aufgeben und nur für ihn verfügbar würde. Sie willigt ein. In der bescheidenen Wohnung versuchen sich beide zu arrangieren, bis der Sohn des Mannes, ein Germanistik- professor, seinen Vater ins Krankenhaus bringen muss: Diagnose Herzinfarkt. Yeter, die jetzt keine Prostituierte mehr ist, hat noch eine Tochter, die in der Türkei lebt. Eine Tochter, die im selben Moment auf der Suche nach ihrer Mutter ist, weil sie als politische Aktivistin aus ihrem Heimatland flüchten musste. Eine Tochter, der sie in losem Kontakt erzählte, sie arbeite als Schuhverkäuferin. Der alte Mann wird aus dem Krankenhaus entlassen. In der Wohnung daheim kommt es zu einem Streit, bei dem er Yeter schlägt. Sie bleibt regungslos auf dem Boden liegen.

Lottes Tod

Ayten irrt durch die Stadt. Sie hat kein Geld, keinen Wohnsitz, keine Perspektive. Sie musste die Türkei verlassen, weil sie Anhängerin einer Widerstandsbewegung ist. Die junge Frau sucht ihre Mutter, doch ohne Erfolg. Günstiges Essen bekomme sie in der Mensa der Universität, sagt man ihr. Dort trifft sie auf die Studentin Lotte, die sie mit zu sich nimmt, die ihr Anziehsachen schenkt und sie ausführt. Die sie zu lieben beginnt. Lottes Mutter ist skeptisch, macht sich Sorgen um die uneigennützige Tochter. Als Ayten von der Polizei aufgegriffen und nach einem Jahr gerichtlicher Auseinan- dersetzung abgeschoben wird, reist Lotte ihr in die Türkei nach. Besuche im Gefängnis und Besuche in Büchereien sind ihre Tagesbeschäftigung, um alles für die Freilassung der Freundin zu unternehmen. Es hängen Plakate in der Gegend, auf dem Yeters Foto zu sehen ist. Der Germanistikprofessor hat sie aufgehängt, er lebt jetzt in der Türkei, um die Tochter jener Frau zu finden, die sein Vater ermordet hat. Auch im Buchladen hängt so ein Plakat, dort arbeitet er. Und dort ist auch Lotte, die bald bei ihm zur Miete wohnt. Doch sie wissen nichts von ihrer schicksalhaften Verkettung. Kurz darauf bittet Ayten ihre Freundin beim Gefängnisbesuch, eine versteckte Waffe in Sicherheit zu bringen. Lotte nimmt sie an sich, doch Straßenkinder klauen ihr die Tasche. Die Studentin aus Deutschland wird erschossen.

Auf der anderen Seite

Es passiert viel in diesem Film. So viel, dass es einiges an Konzentration benötigt, um nicht den Überblick zu verlieren. Das liegt jedoch weniger an seiner Geschichte, die bis hierhin gerade einmal ihre Grundsteine setzt, aber dennoch nie unstrukturiert und unübersichtlich erscheint, sondern eher an der großen Themenvielfalt. Fatih Akin reißt in seinem fünften Spielfilm eine ganze Menge an: Es geht um das Suchen nach Liebe, ums Angenommenwerden, um Schutzbedürftigkeit, das Miteinander, um Migration, Immigration, Asylrechte, Globalisierung, Rechtssysteme und Homosexualität. Er handelt von Deutschland und der Türkei, von Beziehungen, Wechselbeziehungen, davon, wie Menschen aneinander vorbeigehen, aneinander vorbei leben. Und ganz besonders ist "Auf der anderen Seite" ein Film über den Tod. Über das Verlieren, das Loslassen, das Alleinlassen. Ganz so wie er es nach "Gegen die Wand" angekündigt hat, als Mittelteil einer Trilogie. Denn "Liebe, Tod und Teufel" hat Akin sie genannt.

Auf die emotionale Wucht dieses Films kann man dennoch nicht vorbereitet sein. Auf seine Unmittelbarkeit, auf seine unprätentiöse, nuancierte Inszenierung, auf seine verdichtete Erzählung. Und auf die Kraft der Bilder, die visuelle Schönheit, die komplexe Bildsprache mit all ihren kleinen Details, ihren feinen Informationen und ihren subtilen Umrandungen. "Auf der anderen Seite" ist Erzählkino, das sich von allen teutonischen, schwermütigen, sozialrealistischen Eigenschaf- ten gelöst hat. Akins Film ist Kino auf einem neuen Niveau, einem reifen, intelligenten, nicht intellektuellem, sondern überlegten neuen Niveau. Er erinnert in seiner Präzision, seiner Wirkungskraft und seiner subversiven, unforcierten Thematisierung gegenwärtiger Kulturgesellschaften an die Arbeiten Fassbinders. Und auch an Ang Lee, der sich vor dem Hintergrund einer individuellen Heimatlosigkeit, einer Suche nach Identität, Geborgenheit und Harmonie ebenfalls der genauen Beobachtung verschrieben hat.

Akins Film ist dennoch nicht das Werk eines Mannes, der nicht wüsste, wo seine Wurzeln liegen. Der kein klares Bewusstsein für die eigene Zugehörigkeit besäße. Vielmehr offenbart "Auf der anderen Seite" ein Gespür für den Schwebezustand, ein Gefühl für das Dazwischen, ohne dass Akin gleichzeitig eine Stimmung der Unzugehörigkeit evozieren würde. Seine Figuren sind ungeheuer komplex, sie alle wollen das individuelle Glück finden, in der Liebe, der Arbeit oder in der Familie. Sie sind Exilanten, im geographischen wie im emotionalen Sinne. Und wie der Film Bezüge schafft, ohne sie aufzulösen, ohne das große Konstrukt zum Einsturz zu bringen, wie er von all den schicksalhaften Verknüpfungen und Verbindungen erzählt, ohne sie zu befriedigenden, konventionellen Enden zu führen, das hat etwas so starkes, magnetisierendes, einzigartiges, dass es ihm keiner wird nachmachen können. Der Autorenfilmer Fatih Akin hat hier sein Meisterwerk geschaffen.

Und dabei hat er sich völlig neu erfunden. Er wollte lernen, er wollte sich nicht zufrieden geben mit dem, was ihm sämtliche Preise eingebracht hat. "Auf der anderen Seite" ist jede Sekunde anzumerken, dass sein Regisseur hungrig ist. Hungrig nach Wissen, nach Grenzerfahrung, nach dem, was das Kino für ihn bereithält, was es hergeben kann, zu was es imstande ist. Die enormen Bilder belegen das, Akin vermittelt alles über sie, die Bilder sprechen eine eigene Sprache, eine übermächtige Sprache. Ein Sarg bewegt sich auf der Rollbahn, von Deutschland in die Türkei wird er befördert. Später sehen wir wieder einen Sarg, in umgekehrter Richtung. In dem einen liegt Yeters Körper, im anderen Lottes. Beide Einstellungen machen nicht besonders auf sich aufmerksam. Sie sind ganz einfach da, sie passieren, und sie erzählen etwas. Über kulturelle Crossover, über symbolisierte Wechselbeziehungen, aber auch über die Dinge, die uns bei allen Unterschieden einen – das Leiden, der Schmerz, die unendliche Einsamkeit nach dem Tod eines geliebten oder aber auch eigentlich fremden Menschen. Der Film hat viele solcher Bilder, viele solcher Verweise. Sie sind mitunter so elegant in das gesamte visuelle und narrative Konzept eingebunden, dass keine erste und zweite Sichtung genügen wird, um sie auszumachen.

Dabei entwickelt Akin in feinen Zügen gleich mehrere systemische Designs. Die persönlichen Konflikte seiner Figuren – seiner lebendigen, glaubwürdigen Figuren, denen er viel zumutet – werden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und reflektiert. Das Drama des Germanistikprofessors, seine Suche nach einer gewissen Bestimmung, nach einem Sinn, vielleicht auch nach einer Spiritualität, ist gleichzeitig auch jenes der Mutter, die in die Türkei reist, um dort zu sein, wo ihre Tochter vor ihrem Tod war. Beide Schicksale wissen nicht, wie sehr ihre Geschehnisse zusammenhängen, doch aus ganz unterschiedlichen Positionen wird das identische Drama erzählt. Diese fortwährende doppelte Erzählgrundlage bedient sich jedoch nie unnötiger Spielereien, stellt sich nicht selbst aus, indem sie die Verknüpfungen immer wieder überbetonen würde. Der Vorwurf, den man "Auf der anderen Seite" machen kann, nämlich dass er letztlich reine Konstruktion ist, bleibt ungewichtig, vor allem da Akin die Strukturen auch Strukturen sein lässt und sie nicht auflöst. Wie viele unbewusste Bezüge zwischen den Menschen eigentlich bestehen, von denen man womöglich auch nie erfahren wird, das ist eine reizvolle, eine überaus realistische Grundhaltung. Und sie wird mir einer Ruhe dargeboten, die mittlerweile mindestens so selten wie notwenig ist, auch im deutschen Film.

Natürlich ist Akins Film ein Statement, ein Kino-Statement. Die Besetzung mit Hanna Schygulla, der großen Fassbinder-Zofe, der Frau mit der leisen, weisen Stimme, die sicher zu den wichtigsten deutschen Nachkriegs- schauspielerinnen gehört, die ist ganz bestimmt ein Statement. Vor allem, da Akin ihr wiederum einen der größten türkischen Schauspieler gegenüberstellt: Tuncel Kurtiz, einen Star der 70er-Jahre, berühmt vor allem durch Filme von Yilmaz Güney. Aber auch das ist nur eine Fußnote, eine bemerkenswerte zwar, eine überlegte, aber keine kokette, nichts, das irgendwie nach falscher Bedeutung suchen würde. Wie "Auf der anderen Seite" ganz generell einen eigenen Weg zu seinen Themen findet, einen situativen und dennoch zusammenhängenden, einen konstruierten und doch unaufgeregten. Alles an diesem Film ist groß, und alles an diesem Film ist klein. Die Plakatzettel, auf denen Yeters Bild zu sehen ist, hängen überall. Lotte geht an ihnen vorbei – und schaut erst dann auf die Pinnwand im Büchergeschäft, als sie von dort abgenommen wurden. Die Gegenwart des Nichtgegenwärtigen – ein kleiner Moment, in dem die ganze Kraft dieses Films liegt. "Trinken wir auf den Tod". Und auf die schönste Schlusseinstellung des Kinojahres noch dazu.


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