Januar 06, 2008

Retro: MALA NOCHE (1985)

Lange Straßen führen durch Portland, Oregon. Es ist eine Welt, die jenseits des Stadtinnern so trist wie befreiend wirken kann, und in ihren dreckigen Seitengassen so beklemmend wie wahrhaftig. Mit dem Auto lässt es sich hier ewig über Landstraßen fahren, dem Wind und der Ungewissheit entgegen. Die graue Leere dieser Umgebung, das totale Nirgendwo fungiert als Schlüssel zu einer Ungelöstheit, die den ärmlichen und suchenden Figuren von Gus Van Sants "Mala Noche" in den heruntergekommen Stadtteilen verwehrt bleibt. Hier tummeln sich verwahrloste Menschen, Obdachlose, Stricher, an den sozialen Rand gedrängte Gestalten. Sie hausen auf der Straße, in Bruchbuden und muffigen Absteigen. Und hier wimmelt es vor Problemen.

Der junge Zigarettenverkäufer Walt wirft ein Auge auf Johnny, einem mexikanischen Einwanderer, der sich gemeinsam mit seinem Freund Pepper illegal in den USA aufhält. Walt lädt die beiden spontan zum Essen ein, nicht ohne Hintergedanken allerdings, will er doch eine Nacht gemeinsam mit Johnny verbringen. Doch selbst für 15 Dollar lässt sich der Mexikaner nicht auf das Geschäft ein, weshalb letztlich Pepper bei und mit Walt schläft. Nachdem die drei einige Tage gemeinsam verbringen und in ihrer Straße herumhängen, verschwindet Johnny plötzlich spurlos. Der lebenslustige Walt versucht seinen mittellosen Freund Pepper – für sexuelle Gegenleistungen – weiterhin allein durchzubringen, doch als sich die Einwanderungsbehörde einschaltet, sind auch ihm Grenzen gesetzt.

Überhaupt geht es in "Mala Noche" gleich immer um Grenzen, um Einschränkungen und unstillbares Verlangen. Schon nach den ersten wirren Einstellungen im Zigarettenladen breitet sich ein Gefühl der Enge aus. Wie die Kamera an Gesichter fährt, sie beinahe überfährt, schlenkert und zoomt, das verschafft zunächst keinerlei Überblick. Gleichsam wird in diesen ersten Minuten bereits alles Wesentliche zum weiteren Verlauf des Films festgehalten: Der schwule Walt baggert den verschüchterten Johnny an, seine Gedanken werden in einem Voicer Over festgehalten, der den gesamten Film durchzieht. "He likes men", nuschelt ein alter qualmender Mann daneben. Der unsichere Mexikaner weiß mit den plumpen Anzüglichkeiten nicht viel anzufangen – ebenso wie der Zuschauer, der kurz zuvor noch die Ankunft Johnnys als blinder Zugpassagier verfolgte, ehe lyrische Countryklänge die Titel einläuteten.

Noch bevor Regisseur Gus Van Sant einige künstlerische Initiationsphasen durchlief, unter anderem eine kommerziell erfolgreiche Arbeitszeit in Hollywood, der mit der ‚Todes- trilogie’ die Rückkehr bzw. Neuzuwendung zum Indepen- dentfilm folgen sollte, schrieb und inszenierte er drei thematisch verwandte Geschichten: "Mala Noche", üble Nacht, ist sein erster Spielfilm, eine dokumentarische 16mm-Momentaufnahme, die sich jungen Erwachsenen irgendwo zwischen nicht mehr und noch nicht widmet. Gefolgt von "Drugstore Cowboy" und dem noch sehr viel ähnlicheren "My Own Private Idaho" bedeutete die nur 25000 Dollar teure Produktion den Durchbruch für den studierten Designer Van Sant.

Als Film innerhalb einer Subkultur, in der sich schwule unabhängige Filmemacher mit ebensolchen Themen auseinan- dersetzen, war (und – zumindest mitunter – ist) "Mala Noche" einzigartig. Das Debütwerk nähert sich seinem Sujet anders als es seinerzeit vergleichbare Regisseure wie Derek Jarman, Bill Sherwood oder Todd Haynes machten, gemacht hätten oder auch machen würden. Obgleich die zentrale Figur Walt in erster Linie über ihre Sexualität dargestellt und wahrgenommen wird, ganz deutlich im Mittelpunkt der Handlung steht und als Off-Erzähler sogar das einzig direkt verbundene Element zum Zuschauer bildet, geht es in "Mala Noche" nicht per se ums Schwulsein, nicht um Homo- sexualität als einzige Antriebskraft alles Abgebildeten, als Gerüst, das alles andere zusammenhält. Der Film geht darüber hinaus, indem er die Sexualität seines Protagonisten nicht zum Handlung steuernden Zentrum erklärt, sondern als gegeben, als ganz einfach da und durchaus facettenreich (die Figur wird beispielsweise ebenso als ignorant und ‚schwanzgesteuert’ gezeichnet). Walt ist schwul und auf der Suche nach einem Partner, er redet viel übers Ficken, über das Objekt seiner Begierde, und nicht selten auch definieren er und somit der Film sich über Homosexualität.

Viel ausgeprägter aber scheint "Mala Noche" das Bild einer Landschaft zu entwerfen, in der auch Walt und seine Sexualität letztlich untergeordnet oder zumindest den anderen – heterosexuellen – Figuren ebenbürtig wirken. Überhaupt ist gar nicht genau fassbar, welcher sexuellen Ausrichtung beispielsweise die beiden Mexikaner angehören, zumindest was Pepper betrifft, der schwulem Sex nicht eindeutig ablehnend gegenübersteht. Indem der Film diese Frage nie genau zu klären versucht, beutet er das Thema nicht aus und setzt in gewisser Weise eine Priorität, die andere Vertreter des queer cinema vermissen lassen. Walts Homosexualität ist ein integraler, aber letztlich dennoch nur ein Aspekt des Films, der vor allem von der Ziel- und Chancenlosigkeit einer Generation, der Einsamkeit, dem Verlorensein seiner Figuren berichtet. Der mehr ein fragmentarisches, soziales Abbild der Wahrnehmung seines Regisseurs liefert, selbst aus Portland stammend.

Van Sant ist hier mit einer spürbaren Frische bei der Sache. Er scheint zu wissen, wovon er redet, er arbeitet sehr intuitiv, ungezwungen und natürlich. "Mala Noche" bleibt trotz seiner aufdringlichen Kameraarbeit immer auch distanziert, er versucht sich den Figuren zwar deutlich zu nähern, rückt ihnen aber nie auf den Leib. Er bleibt unterkühlt und fremdartig, trotz seiner intimen Inszenierung, die keine räumlichen Grenzen zu kennen scheint, obwohl es gerade um die Beengtheit der Figuren geht. Erstaunlicherweise trifft er damit dennoch den richtigen Ton, was nicht zuletzt an der ungezwungenen, unsentimentalen, nie nach übergeordneter Bedeutung suchenden Regie liegen mag. Dies ist simpel eine in starken Kontrastbildern festgehaltene Geschichte über Romantik, über Verlierer und über eine ganz spezielle Zeit, die so oder vielleicht so ähnlich irgendwo abgelaufen ist. Oder anders: Van Sant macht in diesem Film noch vieles richtig, was er mittlerweile falsch macht.


65%