August 14, 2009

Kino: CORALINE

Mehr skurrile Einfälle, liebevolle Noten und fantasievolle Entwürfe als in "Coraline" wird ein Animationsfilm kaum aufbringen können: Regisseur Henry Selick knüpft mit diesem Stop-Motion-Märchen in 3D an die Ideenreichtümer und Detailverliebtheit seiner beiden vorherigen Trickarbeiten "The Nightmare Before Christmas" und "James und der Riesen-pfirsich" an. Der Film setzt sich, trotz der stilistischen und inhaltlichen Nähe zu den Vorgängern, eigenständig und durchdacht mit kindlichen und erwachsenen Bilderwelten auseinander und ist auch als Emanzipation Selicks von seinem Wegbegleiter und einstigen Produzenten Tim Burton zu verstehen.

Basierend auf Neil Gaimans 2002 erschienener Kindergrusel-novelle "Gefangen hinter dem Spiegel" entwirft der Film eine verschrobene Welt durch die Augen eines kleinen Mädchens: Die eigensinnige Einzelgängerin Coraline ist gerade mit ihren Eltern in ein altes Haus auf dem Land gezogen, beginnt sich aber rasch zu langweilen in der tristen neuen Umgebung. Ihr Vater stürzt sich in die Arbeit, ehe überhaupt die Umzugskisten ausgepackt sind, während ihre Mutter sich ganz dem Haushalt verschreibt.

Da trifft es sich natürlich gut, dass Coraline in ihrem neuen Haus eine kleine Tür entdeckt, hinter der ein langer Tunnel zu einer Parallelwelt führt – einer exakten Abbildung der Wirklichkeit: Mit dem Unterschied, dass sich ihre Eltern hier besonders liebevoll um sie kümmern, der ständig quasselnde Nachbarsjunge dort verstummt ist oder der vertrocknete Vorgarten sich plötzlich in eine bunte Blumenwelt verwandelt hat, die dem Gesicht des kleinen Mädchen nachempfunden ist.

Schade nur, dass Coraline jeden Morgen nach ihrem Ausflug in die verlockende Alternativrealität wieder in ihrem gewöhnlichen Bett erwacht. Doch was zunächst wie eine Flucht in lebhafte Wunschvorstellungen erscheint, wird rasch Wirklichkeit: Ihre sorgsame "andere" Mutter bittet sie, sich jene Knopfaugen anzunähen, die alle Gesichter in der Welt hinter der Tür zieren. Zu spät erst merkt Coraline, dass sie in die Fänge einer Hexe geraten ist, die das Mädchen für immer in ihr Reich sperren möchte – so wie schon zahlreiche andere Kinder vor ihr.

Die spielerischen Träume, die sich allmählich in verzerrte Alpträume umdichten, bedienen ein typisches Selick-Motiv: In "Nightmare Before Christmas", der ebenfalls zwei gegensätzliche Ästhetikentwürfe vereinbarte und schließlich vermischte (statt sie gegeneinander auszuspielen), spielten er und sein Co-Regisseur Tim Burton lustvoll mit der Widersprüchlichkeit einer morbiden Halloween-Welt und der zuckersüßen Ikonographie weihnachtlichen Kitsches.

In "Coraline" befinden sich die beiden Spielwelten jedoch in unauflösbarer Konkurrenz. Das Erschaffen einer imaginären oder auch realen Parallelvorstellung ist als Kinder-geschichtenmotiv freilich bewährt: Entsprechend spielt die Bildgestaltung des Films in vielerlei Hinsicht mit metaphorischen Konstrukten auf kindliche Urängste, Sehnsüchte und Ausdrucksformen an und erinnert dabei an klassische Stoffe wie "Alice im Wunderland" und ganz besonders den "Zauberer von Oz".

Es geht in "Coraline" also abermals um die Bedrohung des trauten Heims und der beschützten Kindheit durch eine gefahrenvolle Quelle, die hier bezeichnenderweise als intrigante Mutterfigur hinter einem geburtsgangähnlichen Tunnel erscheint und sich innerhalb des eigenen Hauses herausbildet – möglicherweise auch als Projektion eines Kindes, das an der Unzufriedenheit ihrer alltäglichen Wirklichkeit zu zerbrechen droht. Eines der offensichtlichsten Symbole für die Umkehrstrategie der Geschichte liefert dabei bereits der um die Vokale vertauschte Name der Titelheldin.

So konventionell und simpel "Coraline" inhaltlich auch strukturiert sein mag, so reizvoll bebildert der Film seine eskapistische Märchenhandlung. Es ist womöglich der erste aller neuerlichen Animationsfilme, dessen 3D-Konzept sich nicht in umher fliegenden Gegenständen erschöpft, sondern der seine dreidimensionalen Effekte ebenso spar- wie behutsam nutzt, um die Tiefe von Räumen und damit letztlich die Tiefe von Bildern zu erforschen: Insbesondere der die beiden Welten verknüpfende Tunnel wird in der 3D-Version zum visuellen Erlebnis, das den Zuschauer tief in die Geschichte lockt.

In Verbindung mit einer stets den richtigen Ton treffenden, erstaunlich komplexen Musikuntermalung nutzt der Film durch die Kombination von mühevoller Puppen-Stop-Motion, klassischem Zeichentrick und fein abgestimmter CGI-Arbeit schließlich alle Bereiche der Animation für seine ideenreiche, detailverliebte und vor allem beseelte Gute-Nacht-Geschichte, die mal schaurig, mal melancholisch die bisher rundeste Regiearbeit Selicks bildet.


70% - erschienen bei: gamona