September 23, 2008

Retro: STRANGERS ON A TRAIN (1951)

Die Fremden im Zug: Das impliziert zunächst einmal eine Begegnung. Und so wie die amerikanische Filmgeschichte es unzählige Male vorgeführt hat, handelt es sich dabei meist um romantische Begegnungen. Um ein Irrlaufen und Zusammen- prallen wie in der Screwball Comedy (allein in den Filmen von Preston Sturges spielen sich zahlreiche prägnante Situationen zwischen Frau und Mann in Zügen ab), oder gar um den sexuellen Höhe- und filmischen Schlusspunkt, so wie es Alfred Hitchcock zum wunderbar unverschämten Ende von "North by Northwest" hin demonstrierte. Ein Aneinanderstoßen im Zug nun leitet auch die Begegnung von Bruno und Guy ein, den beiden Hauptfiguren in "Strangers on a Train". Nicht zum Schluss, sondern schon zu Beginn des Films also muss der Zug bereits seine symbolische Stärke unter Beweis stellen: Zwei getrennte Schienen laufen zusammen, zwei unbekannte Männer berühren sich mit den Füßen. Es ist der Beginn einer Vereinigung – oder, vielleicht, auch ein früher visueller Beleg für zwei Gegensätze, die nichtsdestotrotz ein Ganzes bilden.
Doch was soll diese Begegnung einem sagen, sofern sie einer Tradition von Bildern und Zeichen folgt, und nicht zuletzt der ihres eigenen Erzeugers? Immerhin handelt es sich bei den beiden Personen, die in den ersten Minuten zusammentreffen (und nicht voneinander loskommen werden), um zwei Männer, einem berühmten Tennisspieler und einem offenkundigen Bewunderer, der dem sophisticated Objekt seiner Begierde einen Tauschmord vorschlägt – da dürften erotische Implikationen zunächst keine große Rolle spielen. Nur wird der Film auch weiterhin nicht darum verlegen sein, sich jede Anspielung für diesen Verdacht zu eigen zu machen, jedes Bild hinreichend zu phrasieren: Bruno, der sich von seiner Mutter die Fingernägel zurechtmachen lässt; Guy, der zwischen zwei Frauen steht – die eine lästig und bald schon mausetot, die andere mütterlich, besorgt und nicht würdig, in die moralische Krise ihres Gatten in spe eingeweiht zu werden. Schließlich landet der good Guy des Nachts im Schlafzimmer des aufdringlichen Bösewichts, um ihm seine Pistole zurück- zugeben – und vorher hat der Hund des Hausherren dem Besucher noch in Slow-Motion das Händchen abgeleckt: Nie wieder hat Hitchcock so hübsch und kreativ zum Aufspüren homosexueller Konnotationen eingeladen!
In gewisser Hinsicht fühlt sich der Film deshalb wie eine Fortsetzung von "Rope" an: Beide funktionieren täter- motivisch nur über einen aufgeprägten schwulen Subtext, während sie mit einer kriminalistischen Handlung kokettieren, die ein weiteres Mal um die Idee vom ‚perfekten Mord’ kreist, und beide scheinen dabei so sehr plot driven konstruiert, dass ihre gradlinige, geschlossen wirkende Erzählstruktur keine Zwischenstellen mehr zulassen dürfte. Dabei ist gerade "Strangers on a Train" mit einigen offenkundigen Unge- reimtheiten, um nicht zu sagen: eklatanten logischen Unwahrscheinlichkeiten, behaftet, die Hitchcocks sonst so undurchlässiges Erzählkonzept mehr als einmal in Frage stellen. Das Suspense-Prinzip also, die Technik, sich weg von einer "normativen" und hin zu einer inneren – oder filmischen – Logik zu bewegen, entfaltet hier nur selten seine Wirkung: Guy, der sich statt zur Polizei lieber in undurchsichtige Verstrickungen begibt; Bruno, der einen Vater loswerden will, der eigentlich gar nicht anwesend ist.
Aus dieser, zumindest für Hitchcock-Verhältnisse, didaktisch gescheiterten Erzählsituation allerdings ergibt sich ein besonderer Reiz: Die Lücken der Logik und letztlich des Drehbuchs (das aufgrund von Streitereien mehrmals umge- schrieben und bearbeitet wurde) haben einige Leerstellen zur Folge, um die erfinderisch auszufüllen Hitchcock sichtlich bemüht ist. Da nämlich, wo sein für gewöhnlich mit so vielen sichtbaren Informationen aufgeladenes Bild ein striktes Befolgen der, nun ja, Rezeptionsanweisung erfordert, scheint "Strangers on a Train" im Bewusstsein um seine unschlüssige Dramaturgie und letztlich unglaubwürdige Figurenkonstellation gleich von vornherein alle Aufmerksamkeit auf das lenken zu wollen, was sich unterhalb des Bildes abspielt: Das Eingangsmotiv der verschränkten Schienen ("criss-cross" bezeichnet Bruno seinen Vorschlag vom Doppelmord), die sich in Bildübergängen ergänzenden Alltagssituationen der beiden Männer, die zunehmend aufgelösten Raumbarrieren zwischen Guy und Bruno – Hitchcock löst die Distanz immer mehr auf, lässt die beiden widersprüchlichen Figuren so lange miteinander verschmelzen, bis kein Zweifel mehr daran besteht, dass Täter und Opfer nur zwei Seiten ein- und derselben Figur bilden.
Wenn Bruno und Guy durch filmische Verweise letztlich als Modell einer gespaltenen Persönlichkeit, zwischen Mordlust und Schuld hin und her gerissen, funktionieren, lassen die homoerotischen Bezugnahmen den Schluss zu, dass hier ein Mann unentschlossen mit seiner Sexualität ringt. Insofern wirken die aufdringlichen Begegnungen des Stalkers Bruno, des bösen Zwillings, fast wie der komödiantische Versuch eines ungebändigten Charmeurs, den braven Tennisspieler Guy off the closet zu nötigen. Hitchcock betreibt dieses quasi-subversive Metaspiel mit umgekehrten Vorzeichen sogar auf Produktionsebene der Besetzung: Die Rolle des wilden Bruno gab er einem heterosexuellen, die des scheinfrommen Gegenspielers Guy einem homosexuellen Schauspieler (Farley Granger spielte auch bereits in "Rope" einen eher repressiven schwulen Charakter). Vor diesem Hintergrund wirken letztlich auch die permanenten zweideutigen Annäherungen und Bildübergänge der beiden Männer amüsant: Der finale Gewaltakt auf dem Karussell etwa, oder die Parallelmontage vom sich über ein Gullyloch bückenden Bruno und dem mit heftigen Vor- und Zurückstoßbewegungen Tennis spielenden Guy.

70%

Literatur:
  • Dotzauer, Gregor (1999): Strangers on a Train. In: Beier, Lars-Olav / Seeßlen, Georg (Hrsg.): Alfred Hitchcock. Berlin: Bertz, S. 350ff.
  • Nicholson, Mervyn (2007): Stranger and Stranger. Hitchcock and Male Envy – Beyond the queer readings of Strangers on a Train. In: Bright Lights Film Journal, Ausgabe 55
  • Truffaut, Francois: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, 2. Auflage. München: Heyne