September 04, 2009

Kino: TAKING WOODSTOCK

Im Sommer 1969 verhalf die Mutter aller Popmusikfestivals einem amerikanischen Mythos zu seiner Form. Es war der Höhepunkt der Hippiebewegung und zugleich ihr triumph- ierender Schlussakkord: Das Woodstock-Festival sollte historisches Zeugnis eines friedvollen Kollektivs werden, und es ist bis heute das Symbol einer Bewegung des Aufbruchs, die ihren subversiven Geist mit einfachen Botschaften vermittelte. 32 Bands und Künstler, mehr als 400 000 Zuschauer – "drei Tage Liebe, Frieden und Musik".

Ang Lee nähert sich dem Mythos mit "Taking Woodstock" nun aus einer ungewöhnlichen Perspektive: Er hat den Stoff unerwartet zu einem nostalgisch-seichten, amüsanten und lakonischen Feel-Good-Movie verarbeitet, mit einem nahezu unüberschaubaren Ensemble, viel Witz und noch mehr Musik. Der taiwanesische Regisseur erwies sich in seinen jegliche Genres durchkreuzenden Arbeiten bislang immer wieder als stiller Beobachter, als präziser Student menschlicher Verhaltensweisen und gesellschaftlicher Zwischenräume – und wird spätestens seit seiner melodramatischen Western- dekonstruktion "Brokeback Mountain" als einer der besten Autorenfilmer der Gegenwart gehandelt.

Das eigentliche Festival mit seiner Fülle an Musikern streift Lee jedoch nur am Rande. Er erzählt getreu die weitgehend unbekannte, aber wahre Geschichte des schüchternen Elliot Teichberg. Der Sohn russisch-jüdischer Einwanderereltern hilft seiner Familie während der Sommermonate dabei, deren leicht marode Pension in Bethel, einem abgelegenen Örtchen im Bundesstaat New York, in Stand zu halten. Frustriert ob der ausbleibenden Kundschaft und aussichtlosen Überschuldung der Familie stößt Elliot auf eine Zeitungsmeldung über ein groß angekündigtes Musikevent, das kurzfristig abgesagt wurde und nun auf einen neuen Veranstaltungsort hofft.

Diese Chance begreift der Junge natürlich als Wink des Schicksals und beordert seinen alten Schulfreund und Organisator des Festivals Michael Lang in das beschauliche Kaff, um das Konzert schließlich dort veranstalten zu lassen. Familie Teichberg hat jedoch keinen Schimmer, welch logistische und nervliche Belastung sie auf sich nehmen müssen: Bald strömen Hunderttausende Hippie-Pilger in das Provinznest, besetzen Betten, Wiesen und Seen, um die größte Friedensparty aller Zeiten einzustimmen. Inmitten der Love-and-Peace-Atmosphäre lernt Elliot dabei neue Freunde, seine eigene Sexualität und schließlich auch die rigiden Eltern von einer ganz anderen Seite kennen.

Dass Lee eine Geschichte erzählt, die zwar eng mit dem Woodstock-Festival verknüpft ist, sich jedoch weitab vom eigentlichen Zentrum abspielt, gibt ihm die Möglichkeit, den Mythos mit einem anderen Blick einzufangen. Der auf die Organisation statt Durchführung gesetzte Handlungsfokus ermöglicht dem Regisseur zunächst abermals das behutsame Herantasten an ein fremdartiges Phänomen, das er sich gemeinsam mit dem Publikum durch unterschiedlichste liebevolle Figuren und irrwitzige Momentaufnahmen erschließt. Nicht einen einzigen Live-Auftritt rekonstruiert er, nur wenige Minuten spielen gar auf dem eigentlichen Festivalgelände – und doch meint man, dem gigantischen Friedenshappening ganz nah zu sein.

Dadurch betont der Film ebenso clever wie einfühlsam, dass Woodstock nicht nur ein ausgedehntes Musikereignis voller bekiffter Hippies war, sondern mehr als das, eine große Zusammenkunft verschiedener, gegensätzlicher, ulkiger Persönlichkeiten voller bizarrer Situationen, denkwürdiger Momente und ungewöhnlicher Erfahrungen. "Taking Woodstock" ist Coming-of-Age- ebenso wie Coming-Out-Geschichte, Emanzipationskomödie und Initiationsfilm, Familienmelodram und Musikhommage zugleich. Und dennoch inszeniert Lee diese Zeitgeistepisode mit unbeschwerter Hand und von beachtlichem Unterhaltungswert.

Formal orientiert sich der Film dabei mit zahlreichen Bildformatswechseln und Split-Screens an der oscarprämierten Dokumentation von Michael Wadleigh, die Ang Lee mit seiner dramatisierten Version bestens ergänzt. "Taking Woodstock" wird sich bei alledem unterm Strich gewiss den Vorwurf gefallen lassen müssen, der romantischen Faszination des Flower-Power-Spektakels durch seinen leichten Wohlfühlton eher zu erliegen, statt dem Mythos genauer auf den Grund gehen und hinterfragen zu wollen. Lee jedoch hat sich an der Post-Hippie-Generation und ihrer hilflosen Starre bereits abgearbeitet: Sein "Eissturm" thematisierte 1997 eindrucksvoll den Morgen danach.


70% - erschienen bei: gamona