Juli 17, 2007

Retro: ONIBABA (1964)

Einige der eindrucksvollsten Kriegsfilme zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Gegenstand so fühlbar, erschreckend und nachhaltig darstellen, weil sie eben darauf verzichten, ihm unmittelbar ein Gesicht zu verleihen. So muss Michael Curtiz’ "Casablanca" als eine der brillantesten Studien über den Krieg, eine der eindringlichsten Thesen über das, was er für die Menschen bedeutet, nämlich die totale Zerstörung sozialer Gefüge, gewertet werden – obwohl er den Zuschauer nicht für einen einzigen Moment in das direkte Kriegsgeschehen aus Kugelhagel und Bombengeschützen befördert. In "Onibaba", der Verfilmung einer alten buddhistischen Parabel, zeigt Regisseur Kaneto Shindo ("The Naked Island") den Krieg nur einmal kurz in Form einer großen Rauchwolke in der Ferne: Obwohl er im Mittelpunkt des Films steht, seine Auswirkungen die Handlung bestimmen, bleibt er weit entfernt – und scheint gerade deshalb so nahe zu sein.

"Onibaba"
erzählt von zwei Frauen während der Sengoku-Periode, einer Mutter, die ihren Sohn in den Bürgerkrieg ziehen lassen musste, und deren Schwiegertochter. Beide leben in einer kleinen Hütte, umgeben von einem weiträumigen Grasfeld. Um zu überleben, töten die Frauen vorüber ziehende Krieger, denen sie zunächst alle Habseligkeiten rauben und sie dann schließlich verspeisen, während die Knochenreste in ein tiefes schwarzes Loch geschüttet werden. Die Zweckgemeinschaft scheint in Gefahr, als der benachbarte Kriegsveteran Hachi zurückkehrt und mit der jüngeren Frau ein heimliches sexuelles Verhältnis eingeht. Die Schwiegermutter kommt hinter die Beziehung und versucht das Mädchen immer dann, wenn es nachts zu ihrem Liebhaber läuft, in Verkleidung eines Dämons zu verschrecken – bis sich das Grauen zu materialisieren beginnt.

Shindos Film entwirft ein scheinbar verzerrtes Bild vom Leben abseits der Gesellschaft, am Rande des Krieges und jenseits zivilisierter Ordnungsmuster. Doch seine Darstellung einer Gemeinschaft ‚Zurückgebliebener’, einer Gruppe von zwei Frauen, die in einem für gewöhnlich patriarchalisch organisiertem und hierarchischem Umfeld eine neue Existenzgrundlage schaffen müssen, wirkt realistischer als manch andere cineastische Kriegsverklärung, die nicht selten auf das Klischee der daheim wartenden und unselbstständigen Ehefrau setzen. Die extreme Tristesse im Leben der beiden Frauen und die jeglicher Romantik entbehrenden Lebens- umstände fügen sich zu einem trostlosen Gesamtbild, das Krieg als durch und durch antikonstruktivistischen Virus zeichnet – seine nicht nur zerstörende, sondern auch lähmende Wirkung stehen im Mittelpunkt von "Onibaba".

Der feministische Unterton des Films, der sich aus dem Entwurf eines auch ohne männlichem Führungshaupt funktionierenden Systems ergibt, erhält durch die symbolhafte Visualität einen zusätzlichen Nährwert: Der Ort der Handlung, also die Umgebung einer unbefleckten Natur aus wehenden Gräsern, einem tiefen schwarzen Loch und anschließendem Fluss, lässt sich als chiffrierte Entsprechung eines weiblichen Sexualorgans lesen. Im Verlauf des Films wird diese Konnotation zusätzlich untermauert, beispielsweise in einer Szene, bei der Hachi das Erdloch entdeckt und von unbändiger Lust angetrieben hinausschreit: "I want a woman!". Doch Shindo untersucht in "Onibaba" das Wesen von Sexualität noch wesentlich genauer, die Beziehung zwischen Frau und Mann bildet bei ihm ein komplexes Spannungsverhältnis, das er zwar für notwendig erachtet (die biederen Versuche der älteren Frau, ihre Schwiegertochter zur Enthaltsamkeit zu zwingen, werden mit der Verwandlung in einen tatsächlichen Dämon bestraft), es aber auch in einen Zusammenhang mit den verborgenen dunklen Seiten eines jeden Menschen bringt.

Denn die sehr freizügigen Sexszenen haben nicht nur etwas animalisches, sondern mitunter sogar gewalttätiges. Der Sex bedeutet für das Mädchen eine Befreiung aus dem Trott, ebenso wie er ihr Verlangen herausfordert und zur Selbstbestimmung verhilft. Gleichzeitig scheint er Ausdruck einer gefühllosen Radikalität, die auch dann zu Tage tritt, wenn die Frauen gewissenlos töten. Sexualität und deren Auslebung sowie der Drang und Wille zum Überleben stehen in "Onibaba" also in einem dialektischen Verhältnis: In einem Krieg, der die Menschen auslöscht und jegliche Existenz bedroht, muss das Fortbestehen gesichert werden. Der Verlust von Sexualität bedeutete das Ende des Seins, bei Shindo wird die sexuelle Antizipation zum entscheidenden Überlebensmittel. Die in bombastischen, höchst atmos- phärischen Cinemascope-Bildern festgehaltene Landschaft reflektiert dieses Modell symbolisch, wenn die anmutigen Grasfelder sich bei Vollmondschein und Regenschauer zum bedrohlichen Labyrinth entwickeln.

Dass der Mensch nicht nur innerhalb, sondern – zumindest räumlich – auch außerhalb des Krieges zur Bestie werden kann, deutet in Shindos bekennend sozialistischem Verständnis zwar auf die Unmenschlichkeit seines kapitalistisch lesbaren Systems hin (Krieg als Inbegriff einer wertelosen, materialistischen Gesellschaft), deutlich herausgearbeiteter als die politischen Bezüge scheinen in "Onibaba" dennoch jene grundsätzlichen Fragen der menschlichen Sexualität. Interessanterweise findet die ältere Frau die Maske, mit der sie in die Rolle eines Dämons schlüpfen wird, in jenem Höhlenloch, in das sie all die männlichen Opfer gestoßen hat. Das Hinabsteigen in eine metaphorische Vulva, in der sich haufenweise Männerknochen stapeln, erhält hier eine vieldeutige Doppelkodierung: Könnte dies als Hinweis auf die sexuellen Gefühle der Frau für ihre Schwiegertochter zu verstehen sein? Oder erscheint das Bild vielmehr als Symbol einer unterdrückten Sexualität, deren maskierte Narben für immer eine unumkehrbare Entmensch- lichung bedeuten werden? "I’m not a demon! I’m a human being!", lauten die verzweifelten Rufe der Frau. Ob ihr bei der Verfolgungsjagd letztlich der Sprung über das Erdloch – und damit die Überwindung der (Un-)Schuld – gelingt, überlässt Shindo dem Zuschauer.


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