Februar 15, 2007

Kino (Berlinale): NO REGRET

Der junge Su-min verlässt das ländliche Waisenhaus volljährig und mit schmerzlichem Widersinn, weil er dort einen geliebten Freund zurücklassen muss. In der neuen Stadt Seoul findet er sich nur mühsam zurecht, zunächst erscheint ihm alles wie in einer fremden Welt. Den ersten Job in einer Fabrik verliert er bereits kurz nach der Einstellung, sodass er notgedrungen als Stricher in einer untergründigen Schwulenabsteige arbeiten muss – im Gegensatz zu den meisten dort ist Su-min sich seiner Homosexualität allerdings sicher. Einer seiner Kunden, der schüchterne Jae-min, wohlhabender Sohn eines Fabrikbesitzers, ist an mehr interessiert als käuflicher Liebe. Nach anfänglichem Widerstand lässt sich Su-min auf eine leidenschaftliche Beziehung ein, die bald jedoch durch die konservativen Wertvorstellungen von Jae-mins Familie gestört wird: Die glückliche Romantik droht in seelische Selbstzerstörung umzuschlagen.

Obwohl es längst und völlig zu recht im Mittelpunkt des internationalen Blickfeldes liegt, muss sich das koreanische Kino dieser Tage ironischerweise besonders beweisen. Das allgemeine Aha-Erlebnis, das Regisseure wie Kim Ki-duk und Park Chan-wook mit großer Wucht seit dem Fall der Zensur evozierten, ist – so eindrucksvoll es auch erschien – am abklingen. Nun muss der koreanische Film zeigen, ob er sich konstant halten und die enormen Zuschauererwartungen mit Nachdruck erfüllen kann. Wie sich zeigt weichen radikale Schockszenarios spielerischen Tönen, wenn sich beispielsweise Chan-wook mit „I'm a Cyborg, But That's OK“ nach seiner strengen „Vengeance“-Trilogie einer romantischen Geschichte widmet, oder Filme wie „No Regret“ in unaufgeregtem Rhythmus das Wesen der Liebe porträtieren. Die Erwartungen können deshalb nur erfüllt werden: Die neusten Werke aus Südkorea zeichnen sich dadurch aus, dass sie in ihrer vorläufigen Selbstsicherheit angekommen sind.

Obwohl im alltäglichen Leben noch immer ein weitgehendes Tabuthema, erzählen koreanische Filme auf der großen Leinwand mittlerweile längst auch in freizügiger und offener Darstellung Geschichten gleichgeschlechtlicher Liebe. Das Spielfilmdebüt von Regisseur Leesong Hee-il (kurz vor der Berlinale-Aufführung: „Ich weiß, dass mein Film einige Defizite aufweist, aber ich hoffe, er gefällt ihnen trotzdem.“) ist mit kurzer Distanz, aber sehr viel sinnlichem Gefühl inszeniert. Die intensive Nähe zum Geschehen wird nicht nur durch zahlreiche Handkameraaufnahmen aufgebaut, sondern ist auch den unverbrauchten, glaubwürdigen Leistungen der jungen Schauspieler geschuldet. Wie der Titel „No Regret“ suggeriert, gibt es nichts zu bereuen, weder eine Liebesbeziehung, die an den Konventionen zu scheitern droht, noch die mühsame Suche nach der eigenen Identität. Und doch sind die wahren Glücksmomente Su-mins und Jae-mins von meist kurzer Dauer: Illusionen gibt sich der melodramatische Film nur ungern hin.

Dabei ist die Umsetzung seiner Geschichte der formalen Strenge nicht in dem Maße unterworfen, wie es die Arbeiten genannter Regisseure sind. Deshalb repräsentiert der Film den gesetzten – nicht langweiligen! – Charakter des gegen- wärtigen koreanischen Kinos zureichend, verwischen sich kontrollierte Disziplin und dokumentarische, scheinbare Improvisation zu einer existentiellen Auslotung psychischer und physischer Grenzen – hier entspricht „No Regret“ ganz dem Geist seiner geographischen Herkunft. Denn im Kern erweist sich das subversive Element als unabdingbar: Die Einsamkeit des Helden dominiert, weil er einen inneren Kampf auszufechten hat. Genau dieser Prozess, den viele Figuren im koreanischen Kino durchlaufen, bestimmt dessen lethargischen, konzentrierten Charakter. Die pulsierende Sensibilität, mit der Hee-il seine Geschichte erzählt, lässt keinen Platz für Extraversion.

Im Gegensatz zu den gesamtgesellschaftlichen Charak- teristiken, auf die beispielsweise die bizarre Selbst- entfremdung in Chan-wooks „Oldboy“ hinweist, legt Hee-il den Blick lediglich auf eine kleine Gruppe junger Menschen, wenige unter vielen, ohne Rückschlüsse auf das große Gesamte ziehen zu müssen. Obwohl das Schicksal seiner Figuren dennoch beispielhafte Züge trägt: Vor die individuelle Selbstfindung in einem Land, das sich kapitalistisch neu definiert und gleichzeitig um eine Annäherung an den sozialistischen Nachbarn bemüht ist, wird jeder gestellt. Vielleicht erklärt sich dadurch der implosive Charakter dieser Figuren, die alle nach ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung suchen, während sich Traditionen und bisherige Konstanten im Umbruch befinden. Gegen Ende verlieren die Bilder in „No Regret“ immer mehr an Farbe, die Nachtaufnahmen könnten dunkler kaum sein – und die Selbstzerstörung scheint sich durchzusetzen. Wäre da nicht die ebenso unwirkliche wie ambivalente Schlusseinstellung, die dem widersprechen würde. Hoffnungsschimmer statt Katastrophenalarm – auch das gehört zum neuen korea- nischen Film.

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